Gesellschaft

Alkoholkonsum: Warum ist mein Glas schon leer?

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Am Alkohol sterben weit mehr Deutsche als im Straßenverkehr. Trotzdem glauben wir alle, wir hätten das Trinken im Griff. Das ist ein Selbstbetrug.

Vergangenen Sonntag war ich besonders kultiviert. Eine Freundin hatte mich aus Anlass ihres Geburtstages zu einer Uraufführung in die Berliner Philharmonie eingeladen, zeitgenössische Chormusik, eine Komposition zu einem Text von Friedrich Schiller. Wow. In der Pause wollten wir anstoßen. Wir bestellten Himbeerbowle, eine Spezialität des Hauses, die in bauchigen Gläsern mit appetitlich vielen Früchten darin serviert wird. Vier Frauen, ein Sommerabend, anregende Gespräche über Kultur und die Welt. Als der erste Gong ertönte, war mein Glas noch halb voll. Ich trank schneller. Zweiter Gong. Ein Servicemitarbeiter näherte sich, wir sollten besser jetzt zu unseren Plätzen zurückkehren. Meine letzten Himbeeren stürzte ich förmlich hinunter. Dritter Gong. Den zweiten Teil des Konzerts war ich, ehrlich gesagt, fast betrunken.

In Deutschland sterben fast viermal mehr Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums als im Straßenverkehr. 14.551 Alkoholtote gegenüber 3827 Verkehrstoten im Jahr 2012. Die „Zahl der Woche“, mit der das Statistische Bundesamt auf sich aufmerksam macht, ist normalerweise kein großer Aufreger. Aber die Nachricht von den Alkoholtoten anlässlich des internationalen Weltdrogentags am vergangenen Donnerstag bohrt sich in meinen Kopf: Wieso trage ich eigentlich beim Fahrradfahren einen Helm, während ich keine Sekunde darüber nachdenke, ob ich mir abends in der Küche ein Glas Wein nachschenke?

Ein Suchttyp? Ich doch nicht

Alkohol ist ein Nervengift, das weiß man. Schon in der Schule habe ich gelernt, dass übermäßiger Konsum zu Leberschäden führen kann und Abhängigkeit erzeugt. Aber ich bin ja keine Alkoholikerin. Menschen, die sich abends in anonymen Gesprächsrunden mit Vornamen vorstellen und sich gegenseitig versichern, dass sie nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren würden, weil das Zeug beinahe ihr Leben zerstört hätte, haben so wenig mit mir zu tun wie radikale Veganer, Lack- und Leder-Fetischisten oder Übergewichtige mit Bluthochdruck.

Nicht einmal als Jugendliche habe ich mich je so weggeschossen, dass ich einen Filmriss gehabt hätte. Noch nie habe ich mich angetrunken hinters Steuer gesetzt- ein kleines Bier, und ich rufe ein Taxi. Ich rauche nicht. Ich achte auf halbwegs gesunde Ernährung und gehe gelegentlich zum Yoga. Nur bei Süßigkeiten werde ich schwach. Aber ein Suchttyp? Ich trinke, weil es mir schmeckt und Spaß macht. Meinen Alkoholkonsum habe im Griff.

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In der Kneipe bei uns an der Ecke, wo ich am Dienstag mit einer Freundin verabredet war, gibt es einen sehr leckeren spanischen Weißwein. Als ich mir das zweite Glas bestellte, fragte meine Freundin: „Warum ist deins eigentlich schon leer?“

Mit Strafen ist es nicht getan

Es sind ja nicht nur die Alkoholtoten. Jede dritte Gewalttat in Deutschland geschieht unter Alkoholeinfluss. Bei Vandalismus und anderen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung ist fast jeder zweite Täter angetrunken. Als vor zehn Jahren zum ersten Mal aufgeregt über Jugendliche diskutiert wurde, die sich systematisch ins Koma saufen, dachte ich noch, das habe mehr mit einem medialen Hype als mit tatsächlichem Trinkverhalten zu tun. Die Zahl der Mädchen und Jungen jedoch, die mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden, ist seitdem auf ein beunruhigendes Niveau gestiegen. Der Altersdurchschnitt sinkt. Der Mädchenanteil wächst.

Dabei kann man inzwischen davon ausgehen, dass an jedem dieser Krankenbetten geschulte Fachleute sitzen, die den Jugendlichen beim Aufwachen ins Gewissen reden. Schüler lernen im Unterricht, den Alkoholgehalt von Alcopops einzuschätzen. Wer bei Präventionstagen eine „Rauschbrille“ aufsetzt, merkt beim Torwandschießen selbst, wie stark Alkohol die Sehfähigkeit beeinträchtigt. Trotzdem landeten 26.349 Mädchen und Jungen zwischen zehn und zwanzig Jahren im Jahr 2011 mit einem akuten Rausch im Krankenhaus.