Mensch & Gene

Billionen Düfte wahrnehmbar: Wir sind Riesen im Riechen

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Da hatte sich die Wissenschaft übel verrechnet. Unser Geruchssinn ist keineswegs so unterentwickelt wie behauptet. Ein paar simple Experimente und Rechnungen hätten genügt, die Vorurteile über unsere Nase aus der Welt zu räumen.

PreviewPagemarker“ id=“pageIndex_1″>Eine Erkenntnis, wie für den Frühling bestellt: Der Mensch ist ein Geruchsriese. Jahrzehntelang sind wir in der Schule und in Büchern in dem Glauben gelassen worden, der Mensch sei – verglichen etwa mit Hunden – geradezu ein Schwächling, wenn es darum geht, die Welt der Düfte (und leider auch der üblen Gerüche) zu erfassen. Wir gelten nicht nur was die Empfindlichkeit für kleinste Duftkonzentrationen betrifft als eher defizitär, sondern auch was die Duftqualitäten angeht.

Um die zehntausend unterschiedliche Gerüche sollten wir wahrnehmen können, so die alte Vorstellung. Kaum jemand hat an diesen Zahlen gezweifelt, auch nicht, als Besteller und Kinohits wie „Das Parfum“ die beeindruckenden, ja wundersamen Schnupperqualitäten einiger Menschen popularisierten. Jetzt wissen wir: Zumindest was die Vielfalt der Duftnoten betrifft, ist der Mensch wohl um mehrere Größenordnungen besser als sein Ruf. Es dürften Billionen verschiedener Duftnuancen sein, die unser Geruchsrepertoire bilden.

Gemessen und errechnet hat das ein kleines Team um Leslie Vosshall vom Howard Hughes Medical Institute und Andreas Keller von der Rockefeller University in New York. Die Frage, die sich nach der Lektüre ihrer Publikation in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Science“ am meisten aufdrängt, lautet: Wie konnte die Wissenschaft das Geheimnis eines unserer wichtigsten Sinne so lange brach liegen lassen. Im Jahr 1927 war eine Arbeit publiziert worden, in der allein aufgrund theoretischer Überlegungen und ohne jede empirische, sprich: experimentelle, Grundlage die Zahl der möglichen olfaktorischen Empfindungen beim Menschen auf 9561 geschätzt wurde.

Die Zahl rundete man später auf 10.000 auft. Während man in den folgenden Jahrzehnten dann die beiden anderen Hauptsinne des Menschen, der Seh- und der Hörsinn, intensiv beforscht wurden und beeindruckende Fähigkeiten zutage förderte, blieb die Erforschung des Geruchssinns unterentwickelt. Zwischen 2,3 und 7, Millionen verschiedene Farbschattierungen können wir mit unseren Sehsinneszellen in der Netzhaut in dem für uns sichtbaren Wellenlängenbereich von 390 bis 700 Nanometern unterscheiden – eine Zahl, die ähnlich fasziniert wie die gut 340.000 unterschiedlichen Töne, die unsere Innenohr in dem Frequenzbereich zwischen 20 und 20.000 Hertz zu erfassen imstande ist.

Theoretisch zumindest. Denn die Fähigkeiten sind von Mensch zu Mensch extrem unterschiedlich ausgeprägt. Das gleiche gilt, so viel war jedem klar, auch für den Geruchssinn. Manche Menschen sind extrem sensibel, ihr Duftkosmos ist reicher an Varianten als jede Sommerwiese, andere leben in einem olfaktorischen Steinbruch.

Was genau dahinter steckt, und wo die Grenzen der Duftvielfalt sind, das wollte offenbar niemand so ganz genau wissen. Diese Lücke wollte das amerikanische Team um Vosshall und Keller jetzt endlich schließen. Ihre Überlegungen waren einfach: Wenn wir mit drei unterschiedlichen Sehzellen fürs Farbensehen imstande sind, Millionen Farben zu unterscheiden, dann müssten die Wahrnehmungsoptionen mit vierhundert Geruchsrezeptoren in der Nase noch ungleich größer sein. Die Wissenschaftler haben sich für ihre Experimente 26 geruchsempfindliche Probanden gesucht. Jeder von ihnen schnupperte 264 mal. Die Aufgabe war nicht, die Düfte zu benennen, sondern die Geruchsproben voneinander im „Vergleichsriechen“ zu unterscheiden.

Grundlage waren 128 bekannte Duftmoleküle. Sie wurden in Cocktails von jeweils zehn, zwanzig oder dreißig verschiedenen Duftstoffen kombiniert und so eine gewaltige – allerdings oft genug wohl auch übelriechende – Auswahl von Duftmischungen erzeugt. Das war nicht mehr als eine olfaktorische Stichprobe. Denn die chemischen Realitäten in der menschlichen Umwelt besitzen noch ganz andere Dimensionen. Der typische Duft einer Rose beispielsweise wird durch die Mischung von 275 unterschiedlichen Komponenten erzeugt, auch wenn meistens einige wenige die jeweils markante Duftnote einer Rosensorte erzeugen.

Die Riechtests mit den gut zwei Dutzend Probanden hat jedenfalls haben gezeigt: Schon einigermaßen geringe Veränderungen in der Zusammensetzung sind für manche Menschen deutlich wahrnehmbar. Weichen die Mixturen in weniger als drei Viertel ihrer Komponenten voneinander ab, sind schon mindestens die Hälfte der Menschen in der Lage, die Düfte abzugrenzen.

Weichen die Duftcocktails in der Hälfte ihrer Einzelsubstanzen ab, kann praktisch jeder halbwegs sensible Mensch den Unterschied erkennen – und zwar offenbar weitgehend unabhängig davon, wie wohltuend oder übel der Cocktail dabei riecht. Hochgerechnet auf die Vielfalt der verwendeten Duftkomponenten kommen die Wissenschaftler so auf eine Kombinationsvielfalt von mindestens 1,7 Billionen Duftnuancen, die unterschieden werden können.

Dass es in Wirklichkeit wohl noch viel mehr sind, lässt sich schon an der experimentell bedingten Einschränkung auf maximal 30 chemischen Komponenten erahnen. Wenn man zudem bedenkt, dass die Düfte sich in Wirklichkeit nicht nur in ihrer Qualität, sondern abhängig von der Konzentration auch in ihrer Intensität unterscheiden, lässt sich leicht ausrechnen, dass unser Kosmos der Gerüche noch sehr viel größer ist – wie gesagt: theoretisch jedenfalls. Nicht jeder ist zum Parfumeur geboren.