So viel Ehrlichkeit war noch nie in der deutschen Politik. Das wird nun auch mit außergewöhnlich ehrlichen Wahlergebnissen belohnt.
Seien wir mal ehrlich: So viel Ehrlichkeit war noch nie in der deutschen Politik. Das muss an der großen Koalition liegen, die irgendwie das Beste in unseren Politikern zum Vorschein bringt, sogar noch im Bayerischen Wald. Dort gab ein junger sozialdemokratischer Landrat anders als Bill Clinton unumwunden zu, dass er in seinem Dienstzimmer nicht nur Parteienverkehr hatte. Aber auch weiter oben in der SPD regiert nur noch die nackte Wahrheit.
So versprach die SPD-Generalsekretärin Nahles ihren Genossen, sie auf dem Parteitag „ganz ehrlich“ über den Stand der Verhandlungen mit der Union zu unterrichten. Ganz ehrlich, wohlgemerkt, nicht bloß halb- oder gar nur viertelehrlich wie üblich. Diese rückhaltlose Offenheit beeindruckte die in Leipzig versammelten Sozialdemokraten derart, dass sie ihren Vorsitzenden nach dessen eigenen Angaben mit einem „außergewöhnlich ehrliche(n) Ergebnis“ wiederwählten. Noch ehrlicher war nur das für Nahles.
Woraufhin die Schatzmeisterin der SPD, die ein deutlich weniger ehrliches Ergebnis erzielte, mit der Partei schimpfte: „So hättet ihr mit Andrea nicht umgehen sollen!“ Recht hat sie: Ein bisschen Verlogenheit hätte die arme Generalsekretärin schon verdient gehabt. Schließlich musste sie nicht nur den Kanzlerkandidaten Steinbrück ertragen, sondern in Leipzig auch noch eine Umarmung Gabriels als Zeichen der aufrichtigen Zuneigung, die beide verbindet.
Angesichts dieser Ehrlichkeitseruption beim Gegner und Partner wollte sich natürlich auch die Kanzlerin nicht lumpen lassen, schließlich ist die Union der Hund und die SPD nur der Schwanz. Mangels eines eigenen Parteitags (wo sie nur noch KPdSU-gute, nach SPD-Lesart also völlig unehrliche Ergebnisse einfährt) und weil Seehofer zum Knuddeln einfach zu groß ist, sagte sie wenigstens den Strebern von der Jungen Union „ganz ehrlich“, dass sie sich schon einmal mit dem Mindestlohn von acht fünfzig anfreunden sollten. Also jetzt mal janz ährlich, um Adolf Tegtmeier zu zitieren: Wären wir ein geringverdienendes JU-Mitglied, dann pfiffen wir auf die ganze Ehrlichkeit, wenn wir statt ihrer zehn zwanzig bekämen.
Und schon zeigt sich die Kehrseite des ganzen Wahrheitswahns. Kann man sich davon etwas kaufen? Der Ehrliche ist doch bekanntermaßen immer der Dumme. Und wer will heutzutage schon noch dumm sein? Nicht einmal mehr die Blondinen, nach all den blöden Witzen. Von wegen ehrlich währt am längsten! Schon in Währungsfragen stimmt das nicht mehr, denn dann müssten wir immer noch die Mark haben. Über den Euro durfte das Volk damals nicht abstimmen, weil die Politiker ein ganz außergewöhnlich ehrliches Ergebnis befürchteten. Und jetzt wollen diese ehrenwerten Herrschaften sich ehrlich machen? Pfui Teufel! Also uns ist die ehrliche Unehrlichkeit in der Politik zehnmal lieber als diese unehrliche Ehrlichkeit. Da weiß man wenigstens, woran man ist.