Politik

Ein Signal für Europa

• Bookmarks: 15


Das Verfassungsgericht verengt die Verfassung unnötig. Es übersieht die europäische Dimension des Demokratieprinzips. Verfassungsrechtlich nicht haltbare nationale Defensivpositionen sollten aufgeben werden.

Die Euro-Krise ist auch eine Demokratiekrise, und Fragen der europäischen Integration sind auch Fragen, die das verfassungsrechtliche Bekenntnis zur Demokratie betreffen. Das hat das Bundesverfassungsgericht richtig erkannt. Allerdings hat das Gericht in seiner Fixierung auf die Definition absoluter Grenzen europäischer Integration, die aus der Garantie demokratischer Staatlichkeit abgeleitet werden, das Problem in eine Richtung entfaltet, die aus begrifflichen, historischen, komparativen und pragmatischen Gründen unhaltbar ist und in eine Sackgasse führt.

Während das Gericht defensiv den Staat und seine Institutionen auf nationaler Ebene als demokratische Festung gegenüber den Zumutungen europäischer Integration zu verteidigen sucht, vernachlässigt es das Gebot des Art. 23 Grundgesetz (GG), das von deutschen Verfassungsorganen verlangt, bei der Verwirklichung eines vereinten Europas mitzuwirken, das selbst demokratischen Grundsätzen genügt.

Ist eine Kontrolle des ESM durch nationale Parlamente möglich?

Das Grundgesetz schützt als Teil der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Absatz 3 GG das in Art. 20 Absatz 1 GG niedergelegte Prinzip demokratischer Staatlichkeit. In ständiger Rechtsprechung seit dem Maastricht-Urteil leitet das Bundesverfassungsgericht aus diesem Gebot her, dass die Vereinigung Europas nicht so verwirklicht werden darf, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Es gibt einen Kernbestand von Kompetenzen, so das Gericht, die Teil der nationalen Verfassungsidentität sind und nicht im Rahmen der europäischen Integration zur Disposition gestellt werden können. Im Hinblick auf den Fiskalpakt stellt sich dann die Frage, ob die deutsche Budgethoheit entweder durch die Pflicht, eine scharfe Schuldenbremse in der Verfassung zu verankern, oder durch die der Europäischen Kommission zuerkannten Kompetenzen als Überwachungsorgan des nationalen parlamentarischen Budgetprozesses hier so beeinträchtigt wird, dass eine die Verfassungsidentität betreffende Grenze überschritten wird. Hinsichtlich des ESM stellt sich die Frage, ob Bedingungen und Umfang möglicher Haftung noch begrenzbar und hinreichender nationaler demokratischer Kontrolle unterliegen. Hier hat sich das Gericht schwere Aufgaben gestellt: Welcher Raum nationaler politischer Gestaltung ist im Rahmen der europäischen Integration noch ausreichend, und welche Formen nationaler demokratischer Kontrolle sind noch hinreichend? Wo genau soll man diese Grenze ziehen, wie sie juristisch sauber festlegen? Und wenn die Grenze überschritten würde, stellt sich die Folgefrage: Wie könnte ein möglicher Akt der auch die Ewigkeitsgarantie überwindenden verfassungsgebenden Gewalt aussehen, der dann doch, einen entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, weitere europäische Integrationsschritte legitimieren könnte? Wie kann man sicherstellen, mit der Berufung auf die verfassungsgebende Gewalt nicht eine juristisch kaum zu bändigende Größe politisch heraufzubeschwören, die dann bei anderer Gelegenheit kurzen Prozess mit anderen Errungenschaften des Grundgesetzes machen könnte?

Glücklicherweise ist die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen europäischer Integration in Hinblick auf den ESM/Fiskalpakt mit dem gewöhnlichen juristischen Handwerkzeug erstaunlich einfach zu lösen. Zunächst, rein begrifflich – als „open-question argument“ formuliert: Ist es plausibel, dass Deutschland aufhören würde, ein demokratischer Staat zu sein, wenn es den Fiskalpakt und den ESM ratifiziert? Würde die Verfassung der Bundesrepublik dann nicht mehr die Verfassung eines demokratischen Staates sein? Was wäre die Bundesrepublik dann? Ein komparativer Blick verstärkt das Argument: Verfassungsjuristen in den anderen 17 beziehungsweise 26 Mitgliedstaaten, die ebenfalls die Verträge unterzeichnet haben, würden nicht schlecht staunen, wenn ihnen das Bundesverfassungsgericht bescheinigen würde, dass sie im Fall der Ratifikation nicht nur gewichtige Hoheitsrechte, sondern ihre demokratische Staatlichkeit aufgegeben hätten. Nirgendwo sonst wird ernsthaft verfassungsrechtlich behauptet, dass es um das Ganze geht: dass die Grundlagen demokratischer Staatlichkeit durch die Verträge in Frage gestellt werden könnten und das nur ein extrakonstitutioneller Akt der verfassungsgebenden Gewalt die Voraussetzungen für die Ratifikation schaffen könnte. Wenn sich aber das vermeintlich grundlegende verfassungsrechtliche Problem demokratischer Staatlichkeit für alle anderen demokratischen Verfassungsstaaten nicht stellt, drängt sich die Frage auf, ob hier nicht mit abstrakten verfassungsrechtlichen Universalien operierende Argumente institutionelle Interessen oder politische Präferenzen verdecken.

Behindert das Grundgesetz die europäische Integration?

Dieser Verdacht wird verstärkt, wenn man die spezifische Genese des Grundgesetzes und seine Geschichte seit 1949 vor Augen hat. Ist es plausibel zu behaupten, dass ein Grundgesetz, entstanden auf Anregung der westlichen Alliierten und wirksam geworden erst nach Genehmigung der westlichen Militärgouverneure, eine Konzeption souveräner demokratischer Staatlichkeit auf ewig festschreibt, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes gar nicht existierte (es ist kein Zufall, dass der Begriff Souveränität im Grundgesetz nicht auftaucht)? Ausgerechnet das Grundgesetz, das sich schon in seiner Präambel zu einem vereinten Europa bekennt und das zu einer Zeit entsteht, in der bundesstaatliche Europa-Entwürfe Teil der politischen Diskussion sind – von Churchills Züricher Europa-Rede bis zu den Verhandlungen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Europäischen Politischen Gemeinschaft -, soll eine Verfassungsidentität aufweisen, die weitere europäische Integrationsschritte auch dann unmöglich macht, wenn diese mit dem Subsidiaritätsprinzip kompatibel sind und die Europäische Union selbst demokratischen Prinzipien genügt, wie Art. 23 GG es verlangt? Und kann man ernsthaft behaupten, dass die Verfassungsidentität der Bundesrepublik durch ESM und Fiskalpakt auf eine Art und Weise berührt wird, die über den Beitritt der DDR oder die Ratifikation des Maastrichter Vertrages, der uns alle zu europäischen Bürgern machte und die Abschaffung der D-Mark vorschrieb, hinausgeht?

Während das Bundesverfassungsgericht das Gebot demokratischer Staatlichkeit mit einer Verfassungsidentität auflädt, die aus begrifflichen, komparativen, genetischen und historischen Gründen kaum mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist, droht es die Vorgabe des Art. 23 GG zu vernachlässigen: Deutsche Verfassungsorgane sind verpflichtet, an einer Europäischen Union mitzuwirken, die ihrerseits demokratischen Grundsätzen genügt. Hier gibt es ernsthafte Probleme.

Zum einen ist zu fragen, ob es noch mit demokratischen Prinzipien vereinbar ist, dass Entscheidungen über die Gewährung von Krediten im Rahmen des ESM ohne Mitwirkung des Europäischen Parlaments erfolgen. Das Geld wird von den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt, und über Rückbindung an die nationalen Parlamente kann jedenfalls eine minimale demokratische Kontrolle der im Gouverneursrat vertretenen Exekutive erfolgen. Ob der Entscheidungsmechanismus des ESM und das Begleitgesetz in dieser Hinsicht ausreichend sind, prüft das Bundesverfassungsgericht zu Recht. Aber letztlich sind aus strukturellen Gründen den nationalen Parlamenten bei der Kontrolle der Exekutive im europäischen politischen Prozess enge Grenzen gesetzt, so dass es gute Gründe gibt, das Fehlen europäischer parlamentarischer Mitwirkung zu problematisieren.

Noch problematischer aber ist die Rolle der Kommission im Rahmen des Fiskalpakts: Sie hat als Wächter fiskalischer Disziplin über nationale Budgetfragen wichtige Kompetenzen, tritt als Partner und Kontrolleur der nationalen Parlamente auf und ist im Hinblick auf mögliche Sanktionen mit relativ starken Befugnissen ausgestattet. Ist eine solche Beeinträchtigung der Budgethoheit nationaler Parlamente mit dem Demokratieprinzip vereinbar? Das Problem sind nicht primär die europarechtlichen Vorgaben für nationale Budgets. Denn es gibt gute, mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbare Gründe, verbindliche europäische Standards zu formulieren. Aber die relativ eigenständige Rolle, die der Kommission hier zugestanden wird, ist nur demokratisch vertretbar, wenn die Kommission selbst demokratisch legitimiert ist. Das ist nicht wirklich der Fall, solange ihr Präsident nicht aus demokratischen Wahlen hervorgeht, sondern, wie bisher üblich, letztlich von den europäischen Regierungschefs bestimmt wird. Die demokratische Wahl des Kommissionspräsidenten wäre somit nicht nur eine gute Fortentwicklung europäischer Verfassungspraxis im Rahmen des Vertrags von Lissabon, sie wäre aus deutscher Perspektive im Zusammenhang mit dem Fiskalpakt auch ein verfassungsrechtliches Gebot. Art. 23 GG ist deshalb dahin gehend auszulegen, dass die Bundesregierung verpflichtet ist, im Europäischen Rat darauf hinzuwirken, dass der Kandidat der Partei in den Europäischen Parlamentswahlen, der die Unterstützung der Mehrheit des Europäischen Parlaments hat, vom Europäischen Rat als Präsidentschaftskandidat vorgeschlagen wird.

Alternativlosigkeit als Problem

Eine solche Weichenstellung hätte Signalwirkung in Europa. Das Bundesverfassungsgericht würde nicht nur klarstellen, dass jedenfalls die deutsche Regierung verpflichtet ist, sich für den Kandidaten einzusetzen, der als Ergebnis eines europäischen Wahlkampfes eine Mehrheit im Europäischen Parlament organisieren kann. Es würde auch als gemeineuropäisches Verfassungsgericht einen Beitrag zur Interpretation des gemeineuropäischen Demokratieprinzips leisten und damit diejenigen im Europarat unter Rechtfertigungsdruck setzen, die sich der Demokratisierung europäischer Politik widersetzen wollen.

Wenn es bei den Europawahlen um Programm- und Politikfragen ginge, die auch an Personen festgemacht werden könnten, würde das Interesse an den Europawahlen stark zunehmen. Es ginge plötzlich um etwas Nachvollziehbares. Europa wäre politisch nicht nur repräsentiert durch die ewig gleichen Bilder der Gipfeltreffen, bei denen spät in der Nacht Beschlüsse verkündet werden, zu denen es angeblich keine Alternative geben soll. Bürger könnten nicht nur für oder gegen Europa sein, sie könnten sich für ein bestimmtes und gegen ein anderes Europa, festgemacht an konkreten Personen und Programmen, aussprechen. Das wäre aus demokratischer Sicht ein hohes Gut, dem weder die degressive Proportionalität des Wahlrechts noch kulturelle Differenzen oder eher national strukturierte Öffentlichkeiten Abbruch tun würden. Eine Europäische Union, die demokratischen Grundsätzen zu genügen hat, ist weder mit der exekutiv geleiteten Vergipfelung europäischer Krisenpolitik noch der Autonomisierung kommissarischer Kompetenzen vereinbar. Es ist Zeit für das Bundesverfassungsgericht, verfassungsrechtlich nicht haltbare nationale Defensivpositionen aufzugeben und die europäische Dimension des grundgesetzlichen Demokratieprinzips ernst zu nehmen.