
Zwischen den beiden Weltkriegen ging Europa auf einem Weg in die Katastrophe, an dessen Anfang das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung stand. Hitler nutzte diese Idee propagandistisch – sie diente ihm zugleich als Rechtfertigung für sein Vorgehen gegen Prag und zur Verschleierung seiner wahren Ziele.
Der Sommer 1914 sah Europa am Höhepunkt seiner Macht- und Prachtentfaltung. The Mall in London, die Ringstraße und die neue Hofburg in Wien, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, der Budapester Heldenplatz mit dem Millenniumsdenkmal, das Vittoriano in Rom – in allen Hauptstädten, auch in den kleineren, feierten die europäischen Staaten ihre Triumphe in Boulevards und Palästen, Kirchen und Monumenten. Im Sommer 1945 lag die Pracht in Trümmern, und die Macht war in der Hand außereuropäischer Mächte. „Nur dreißig Jahre vergingen zwischen dem Beginn des Ersten Weltkrieges und dem Ende des Zweiten, und sie waren, mit einer kurzen Unterbrechung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, durchweg verhängnisvoll“, schreibt der britische Historiker Norman Stone, der mit dem Vergleich des Zustands der europäischen Städte von 1914 und 1945 seine kurze Geschichte des Zweiten Weltkriegs beginnen lässt (World War II. A Short History. London 2013).
Die Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland für die Friedensordnung der Pariser Vorortverträge ausging, war in London, Paris und Washington erst im März 1939 wirklich wahrgenommen worden – vier Jahre nach dem offenen Bruch des Versailler Vertrages durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, drei Jahre nach der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes, ein Jahr nach der Annexion Österreichs und ein halbes Jahr nach dem Münchner Abkommen. Die Wende aber war das Jahr 1938. Im März schwiegen Frankreich und Großbritannien, als Hitler Österreich annektierte, und im September drängten sie ihm die Abtretung des Sudetenlandes geradezu auf – in der Hoffnung, damit den Frieden noch einmal retten zu können. Zum letzten Mal in der Geschichte Europas entschieden europäische Mächte in München allein über das Schicksal Europas, und die Folgen waren katastrophal. Seither wird „München“ immer dann angeführt, wenn es darum geht, eine militärischen Abenteuern abgeneigte Öffentlichkeit für Interventionen zu gewinnen. „Syrien ist unser heutiges München“, sagte der amerikanische Außenminister John Kerry, als er in Paris für einen Militärschlag gegen Assad warb.
Doch der Vergleich zwischen Assad und Hitler führt in die Irre. Das Desaster der Münchner Konferenz erwuchs nicht nur daraus, dass Demokratien einer Diktatur territoriale Konzessionen machten. Wäre dies so, müsste man Jalta und Potsdam noch vor München nennen, denn die Zugeständnisse Roosevelts und Trumans an Stalin bei der Aufteilung Europas waren weit umfangreicher und schwerwiegender als die Auslieferung der Sudetengebiete an Hitler durch Chamberlain und Daladier. Appeasement ist eine schlechte und moralisch fragwürdige Lösung, aber nicht immer die schlechteste. Der verhängnisvolle Fehler, der den Premierministern Großbritanniens und Frankreichs unterlief, bestand in der Verkennung der Absichten Hitlers. Die „Lösung der Sudetenkrise“ diente ihm nur als Vorwand. Sein Ziel war die militärische und politische Beherrschung Mitteleuropas.
Für Hans J. Morgenthau, den Begründer der realistischen Schule im Studium der internationalen Beziehungen, symbolisierte „München“ den Fehler, auf eine imperialistische Politik so zu reagieren, als wäre es eine Politik des Status quo. Hitler nährte die Illusion, er bestehe lediglich auf der Gleichberechtigung Deutschlands innerhalb der bestehenden Staatenordnung, sein einziges Ziel sei die „Heimführung“ der Deutschen durch den „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes, seine Außenpolitik sei lediglich darauf gerichtet, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen auch für die Deutschen zu verwirklichen. „Nun steht vor uns das letzte Problem, das gelöst werden wird. Es ist die letzte territoriale Forderung, von der ich nicht abgehe und die ich, so Gott will, erfüllen werde“, sagte Hitler am 26. September 1938 im Berliner Sportpalast. In Wirklichkeit aber ging es in München längst nicht mehr um „territoriale Konzessionen und rechtliche Anpassungen innerhalb des Rahmens eines anerkannten Status quo, sondern um das Überleben des Status quo selbst, um die gesamte Verteilung der Macht, um das Alles oder Nichts der Vorherrschaft in Mitteleuropa“ (Politics Among Nations. New York 1948).
Warum sich Chamberlain und Daladier so täuschen ließen, darüber wird seit 75 Jahren diskutiert. Sicher ist, dass Hitler auf das britische Appeasement vertraute. Als ihn Feldmarschall von Blomberg und Generaloberst von Fritsch am 5. November 1937 in der Reichskanzlei auf die Gefahren hinwiesen, die seine Entscheidung für den Krieg zur Lösung des deutschen „Raumproblems“ mit sich brachte, „�ußerte der Führer . . ., dass er von der Nichtbeteiligung Englands überzeugt sei und daher an eine kriegerische Aktion Frankreichs gegen Deutschland nicht glaube“, protokollierte Hitlers Adjutant Friedrich Hoßbach. In Hitlers Weisung für den revidierten „Plan Grün“ zur militärischen Besetzung der Tschechoslowakei vom 30. Mai 1938 hieß es: „Es ist mein unabänderlicher Beschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen. Den politisch und militärisch geeigneten Zeitpunkt abzuwarten oder herbeizuführen ist Sache der politischen Führung.“
General Frantisek Moravec, der Chef des tschechoslowakischen militärischen Nachrichtendienstes, kannte Hitlers Absichten. Der deutsche Abwehroffizier Paul Thümmel versorgte ihn mit detaillierten Berichten, die Moravec an den britischen Geheimdienst SIS weitergab. Über den „Plan Grün“ war die britische Regierung schon im Juli informiert worden. Ewald von Kleist-Schmenzin, der mit der deutschen Generalität in Verbindung stand, sagte im August 1938 in London, nur eine klare Haltung Englands könne einen Krieg noch verhindern. Chamberlain wies die Mahnung zurück, er hielt nichts von Kleist-Schmenzin, denn der sei „scharf gegen Hitler eingestellt“. Die Briten kannten über den Danziger Völkerbund-Kommissar Carl J. Burckhardt auch die Äußerung des dortigen Gauleiters Albert Forster, dass Deutschland „in diesem Herbst die sudetendeutsche Frage lösen werde. Es werde nicht lange gefackelt, sondern sogleich mit brutaler Gewalt vorgegangen werden … Der Gauleiter kenne die geheimsten Gedanken des Führers, er habe sogar jederzeit Zutritt zu seinem Schlafzimmer“, hieß es in Burckhardts Bericht.
Der sudetendeutsche Führer Konrad Henlein hatte 1934 erklärt, er habe „nichts gemein mit dem Hitlerismus“ und bestehe auf Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat. Nach dem großen Erfolg seiner Sudetendeutschen Partei (SdP) bei der Parlamentswahl im April 1935, bei der sie 44 der 66 deutschen Mandate erhielt, setzte sich der nationalsozialistische Einfluss jedoch immer mehr durch. Berlin begann, die SdP zu finanzieren. Henlein bekundete bei seinen Besuchen im Ausland weiter Loyalität zum tschechoslowakischen Staat, aber spätestens 1937/38 war die Gleichschaltung der SdP vollzogen. Am 19. November 1937 berichtete er Hitler, „dass eine Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen in der Tschechoslowakei praktisch unmöglich und eine Lösung der sudetendeutschen Frage nur vom Reiche her denkbar ist“. Die Sudetendeutschen seien „heute nationalsozialistisch ausgerichtet und in einer umfassenden einheitlichen, führungsmäßig aufgebauten, nationalsozialistischen Partei organisiert“. Juden war die Mitgliedschaft in der SdP untersagt.
Kurz nach dem „Anschluss Österreichs“ begann das abgekartete Spiel, Prag mit unannehmbaren Forderungen zu überhäufen. „Wir müssen also immer so viel fordern, dass wir nicht zufriedengestellt werden können“, resümierte Henlein am 28. März 1938 ein Gespräch mit Hitler. Am Höhepunkt der Krise, zwei Wochen vor dem Münchner Abkommen, rief er zur Bildung des „Sudetendeutschen Freikorps“ (SFK) auf. Die Sudetendeutschen müssten zu den Waffen greifen, weil die Prager Regierung „bolschewistisch-hussitische Horden in den Uniformen und in der Gestalt der hasserfüllten tschechischen Soldateska auf das wehrlose Sudetendeutschtum“ hetze.
Chamberlain kam Hitler entgegen, als er Lord Runciman als „unabhängigen Experten“ nach Prag entsandte, um die Lage zu sondieren. Tatsächlich, schrieb der tschechische Historiker Boris Celovsky in seiner bis heute unübertroffenen Studie über das „Münchner Abkommen von 1938“ (Stuttgart 1958), war die britische Regierung „längst entschlossen, die deutsche Politik bezüglich des Sudetenlandes zu dulden, ausgenommen ein militärisches Vorgehen Deutschlands gegen die Tschechoslowakei. Die Entsendung Runcimans nach Prag konnte also bei den Briten keinen anderen Sinn haben, als die deutschen Desiderata durch diese Prozedur zu erfüllen“. Am 17. September empfahl Runciman dem britischen Kabinett, was Chamberlain von ihm erwartete: die Abtretung des Sudetenlandes.
Der französisch-britische Plan, den die tschechoslowakische Regierung unter dem wachsenden inneren und äußeren Druck am 21. September, also vor dem Münchner Abkommen, akzeptierte, sah die Abtretung des Sudetenlandes vor. Unter der französischen Drohung, den Beistandspakt mit Prag zu kündigen, und unter dem massiven Druck der britischen Regierung, die ihn als „die einzige Möglichkeit zur Verhinderung des zu gewärtigenden deutschen Angriffs“ darstellte, blieb ihr am Ende keine andere Wahl.
Im Führerbau am Münchner Königsplatz diktierten Hitler und Mussolini am 29. September Chamberlain und Daladier die Modalitäten der Eingliederung von drei Millionen Sudetendeutschen in das Reich. In den acht Tagen zwischen der Annahme des französisch-britischen Plans durch Prag und der Münchner Konferenz war es den Premierministern Großbritanniens und Frankreichs nur noch darum gegangen, Hitler vom Angriff auf die Tschechoslowakei abzuhalten, mit dem er trotz der tschechischen Zustimmung zur Annexion des Sudetenlandes drohte. Die Prager Delegation, die nach München gereist war, durfte an der Konferenz nicht teilnehmen. Sie wurde unter Gestapo-Bewachung im Hotel Regina untergebracht.
München war ein Meilenstein auf dem Weg in die Katastrophe, der 1917/18 im Zeichen des Sieges der Demokratie und der nationalen Selbstbestimmung begonnen hatte. München war aber auch – so Celovsky – „von außen gesehen, ein Akt des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Die Tschechoslowakei verlor die Sudetendeutschen, die 1918 ohne Befragen in den Staat einbezogen worden waren. Es war aber zugleich ein vorsätzlicher Angriff gegen das bestehende Europa, der erste Schritt auf dem Wege der hitlerschen Expansion. … Die Leidtragenden waren zunächst die Tschechen, erst später die Polen, die Franzosen, die Engländer, nicht zuletzt die Deutschen und die Sudetendeutschen, kurz ganz Europa.“
Der Erste Weltkrieg sei „ein grandioser Kampf um die fortschreitende Demokratisierung der Menschheit auf allen Gebieten“ gewesen, hatte der damalige tschechoslowakische Außenminister und spätere Präsident Edvard Benes 1928 in seinem Buch „Der Aufstand der Nationen“ geschrieben. Aus seiner Sicht hatte das Selbstbestimmungsrecht der Nationen über die multinationalen Reiche triumphiert und Europas „Völkerkerker“ geöffnet. Als Erster hatte Lenin die Sprengkraft dieser Losung erkannt- er rückte sie ins Zentrum der kommunistischen Strategie der Weltrevolution. Hitler nutzte das Selbstbestimmungsrecht, das ihm der Moralismus des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zur Verfügung stellte, als ideologisches Instrument, um die Versailler Ordnung auszuhebeln. Als die Westmächte allmählich einsahen, dass ihr selektiver Umgang mit dem Selbstbestimmungsrecht brandgefährlich war und sich Änderungen am Status quo nicht mehr vermeiden ließen, wollten sie nicht wahrhaben, dass Hitler nicht auf Grenzkorrekturen aus war, sondern auf die Unterwerfung Europas.
Schon die „Heimholung“ Österreichs war unter der betrügerischen Losung des nationalen Selbstbestimmungsrechts erfolgt. Vielfach wird die Tatsache, dass Österreich das erste Opfer der nationalsozialistischen Expansion war, unter Hinweis auf die große Zahl der österreichischen Nazis relativiert, wenn nicht überhaupt geleugnet. Das liegt nicht zuletzt am Austromasochismus, mit dem die österreichische Linke den Komplex ihrer großdeutschen Vergangenheit abarbeitet. Nach den Februarkämpfen 1934 und dem Verbot ihrer Partei waren sozialdemokratische Arbeiter in Scharen zu den Nationalsozialisten übergelaufen. Bei der Schilderung der Vorgänge im März 1938 wird gerne unterschlagen, dass Hitler den Befehl zum Einmarsch erst erteilte, um dem vom österreichischen Kanzler Kurt Schuschnigg angesetzten Referendum „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ zuvorzukommen. Die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechtes durch das Plebiszit hätte seine Pläne durchkreuzt. Er weiche der Gewalt, sagte Schuschnigg in seiner letzten Rundfunkrede. Die österreichischen Juden und die anderen Hitlergegner waren die Ersten, die außerhalb der deutschen Grenzen die Brutalität des NS-Regimes zu spüren bekamen.
Die drei Jahrzehnte vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs standen fast durchweg im Zeichen der nationalen Selbstbestimmung. Der Begriff, der sich vom Sommer 1914 bis zum Sommer 1945 quer durch die europäische Geschichte zieht, war zum ersten Mal vom ungarischen Revolutionär Lajos Kossuth verwendet worden, der 1851 in Vorträgen in England und Amerika von einem „souveränen Recht jeder Nation, über sich selbst zu bestimmen“, gesprochen hatte. Der Schweizer Historiker Jörg Fisch (Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München 2010) hält diesen Begriff für „gefährlicher als Giftgas“, denn auf den Einsatz von Giftgas konnten die kriegführenden Staaten auch wieder verzichten, während die einmal vorgetragene Forderung nach nationaler Selbstbestimmung von so breiten Kreisen Besitz ergriff, dass sie niemand mehr zurückziehen konnte. Die traditionellen, dynastischen oder religiösen Legitimationsgrundlagen der multinationalen Reiche erodierten im 19. Jahrhundert, Souveränität wurde immer mehr als Volkssouveränität verstanden. Der Konflikt zwischen den konkurrierenden Legitimationsangeboten zog sich durch den Ersten Weltkrieg, dessen Ausgang ihn entschied. Danach wurde der Status quo nicht mehr mit der Notwendigkeit der Erhaltung des Gleichgewichtes der Mächte gerechtfertigt, sondern mit der nationalen Selbstbestimmung. Sie blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs das Paradigma der internationalen Politik.
Bezogen auf das Individuum, bedarf der Begriff der Selbstbestimmung keiner weiteren Erläuterung. Er ist identisch mit dem Begriff uneingeschränkter Freiheit. Komplizierter wird es, wenn zwei oder mehrere Personen in freiwilligem Zusammenschluss von ihrem Recht auf Selbstbestimmung gemeinsam Gebrauch machen. Dazu müssen sie sich absprechen und Kompromisse eingehen. Um das Recht auf Selbstbestimmung im Kollektiv wahren zu können, muss das Recht auf Sezession zugebilligt werden, und zwar jederzeit und auf allen Ebenen. Das unbeschränkte Recht auf Sezession aber ist mit der Existenz von Staaten nicht vereinbar. Zu Recht sagte Abraham Lincoln, der den Abfall der Konföderierten von der Union um den Preis von 620 000 Toten verhinderte, dass die Sezession das Wesen der Anarchie ausmache. Wenn das Selbstbestimmungsrecht nach dem Ersten Weltkrieg tatsächlich uneingeschränkt angewendet worden wäre, hätte es die vorgeblichen Nationalstaaten von der Art Jugoslawiens, Rumäniens oder der Tschechoslowakei, die in Wirklichkeit nationalisierende Vielvölkerstaaten waren, nicht gegeben. Vielleicht wäre die Staatenwelt in Hunderte und Tausende Stadtrepubliken, Kleinfürstentümer oder andere politische Gemeinschaften zerfallen. Keine von ihnen wäre groß genug gewesen, um die anderen ernstlich zu gefährden, und jede einzelne hätte im eigenen Interesse auf freien Handel und Kooperation mit den Nachbarn gesetzt. Die europäische Landkarte hätte ausgesehen wie ein Leopardenfell.
Stattdessen entschieden die Siegermächte mit den Pariser Vorortverträgen darüber, wem sie Selbstbestimmung gewährten und wem nicht. Als sie die Grenzen nach dem nationalen Prinzip zogen, fand sich jeder vierte Europäer in einem Staat wieder, dem er sich nicht zugehörig fühlte und in dem er oftmals diskriminiert wurde. Was als Volk gelten und den Anspruch auf Selbstbestimmung erheben konnte, hing von den Machtverhältnissen ab. Deutsche und Ungarn, die Verlierer des Krieges, kamen dafür nicht in Frage. Selbstbestimmung für die einen hieß Fremdbestimmung für die anderen.
Dem Betrug von München war der Betrug von Versailles und Saint-Germain vorausgegangen. Aber was auf München folgte, war eine noch perversere Form der Verwirklichung des nationalen Selbstbestimmungsrechts, nämlich die totale Fremdbestimmung durch Entrechtung, Enteignung und Vertreibung bis hin zum Genozid. Ein Blick auf die europäische Landkarte zeigt, dass es von der polnischen Westverschiebung abgesehen nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige, kleinräumige Grenzveränderungen gab. Statt der Grenzen wurden die Menschen verschoben. Zwar hatte es auch schon nach 1918 mehr oder minder erzwungene Massenmigrationen gegeben, die rund vier Millionen Menschen erfassten, Aber die „nationale Flurbereinigung“, die während des Zweiten Weltkriegs (sieben Millionen) und danach (16 Millionen, darunter zwölf Millionen Deutsche) stattfand, war weit gründlicher.
„Die Frage nationaler Minderheiten wird viel systematischer und radikaler durchdacht werden müssen, als dies nach dem letzten Krieg geschah. Ich bejahe das Prinzip der Bevölkerungstransfers“, verkündete der Vertreiber-Präsident Benes 1941 in London. „Eine andere Lösung im Interesse der Ruhe und des Friedens in Europa gibt es nicht“, sagte er am 28. Oktober. „Ich appelliere an alle großen Verbündeten aus dem Zweiten Weltkrieg, der in München begonnen hat, an die Sowjetunion, an Großbritannien, an die Vereinigten Staaten, an Frankreich und China und an alle anderen, dass sie uns helfen mögen, diese Frage definitiv zu lösen und jeden weiteren Versuch um irgendein anderes neues München zu unterbinden.“
