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„Reichs-Post-Bitter“: Neue Rezeptideen aus vergilbten Blättern

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Likör mit langer Tradition: Seit über 175 Jahren gibt es den „Reichs-Post-Bitter“.

Drogen bitte nur vom Vertrauenshändler: Hinter dem „Reichs-Post-Bitter“ stecken geheime Rezepte und 175 Jahre Geschichte. Von beidem profitieren die heutigen Hersteller.

Eine Fingerspitze gönnt er sich. Wenn die Dämpfe des erhitzten Kräutersuds beim Destillieren wieder zu Tropfen werden und hinter dem Kühler aus dem Röhrchen rinnen, hält Stefan Alles seinen Finger daran und benetzt die Zungenspitze. Das reicht, um das Aroma zu prüfen. Mehr zu sich zu nehmen wäre bei einem Alkoholgehalt von 80 Volumenprozent auch nicht ratsam. Aber Alles schwört ohnehin auf Tradition. „Ich trinke keinen Alkohol, wie die vorigen drei Brennmeister auch.“ Ein bemerkenswertes Versprechen für jemanden, der sich stolz Likörfabrikant nennt.

Tradition ist in jeder Hinsicht wichtig, wenn es um den Reichs-Post-Bitter geht. Etwa bei der Frage, was den Kräuterlikör eigentlich ausmacht. „43“ lautet die knappe Antwort. So viele Kräuter, Blüten und Wurzeln enthält die dunkelbraune Flüssigkeit. Darunter sind Nelken, Schafgarbenkraut, Chinarinde, Kamille, Rosmarin, Pommeranzenschale und Galgantwurzel. Beim Einkauf greift Alles auf spezialisierte Händler aus ganz Deutschland zurück und verfährt nach der Devise, die in einem 1934 erschienenen Ratgeber für Destillateure steht: „Der Kauf von zerkleinerten Drogen ist immer Vertrauenssache!“ Welche genau und in welchem Verhältnis im Reichs-Post-Bitter sind, findet sich in einem zerfledderten Büchlein, das Alles in einer Holzkiste aufbewahrt. „Das ist der Schatz der Firma.“ In den Schränken liegen noch mehr Kladden mit vergilbten Seiten. Sie liefern die Antwort auf die naheliegende Frage: Wer hat’s erfunden?

Wechselhafte Geschichte

Im Zweifelsfall der alte Fritz, also Fritz Scheller oder einer seiner Söhne. Der Dornholzhäuser Gastwirt gründete 1843 eine Weinbrennerei und Likörfabrik. Er spielt für die Bad Homburger Wirtschaftsgeschichte gleich in doppelter Hinsicht eine Rolle. Denn zum Portfolio gehörte anfangs auch Essig, der unter der Marke Melita überregionale Bekanntheit erlangte. Ebenso wie Schellers älteste Tochter Sophie übrigens. Sie heiratete einen Schlossermeister aus Rüsselsheim namens Adam Opel. Der hielt das aufkommende Automobil angeblich für überbewertet. Seine Frau dachte anders.

1934 wurde die Scheller-Fabrikation in zwei Unternehmen aufgespalten. Melita-Essig gab es bis vor acht Jahren. Der Dressurreiter Sven Rothenberger, der das Fabrikanwesen mit einer Villa an der Promenade gekauft hatte, sah aber keine Zukunft für die seit längerem in Schwierigkeiten steckende Firma. Auch der Likör, inzwischen bei einer Lohnbrennerei hergestellt, fristete ein beschauliches Dasein. Die Konkurrenz aus Italien entsprach mehr dem Zeitgeist.

1996 übernahm Alles, eigentlich selbständiger Werbedesigner und erst 33 Jahre alt, den Namen und die Markenrechte am Reichs-Post-Bitter. Von der Fabrik war nichts mehr übrig. Der alte Brennkessel stand beim Hersteller zur Verschrottung. Alles ließ ihn aufarbeiten und zurück nach Bad Homburg bringen. Er traf sich mit früheren Brennmeistern, um sich in die Technik einzuarbeiten. „Ich hatte ja keine Ahnung, und die haben sich über das Interesse gefreut.“