Die Gegenwart

Sozialdemokratie in der Krise: Die SPD muss wieder zum Anwalt der Arbeiter werden

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Martin Schulz, SPD-Bundesvorsitzender und Spitzenkandidat der SPD zur Bundestagswahl

Die SPD muss sich klar nach links orientieren, gleichzeitig aber einen ebenso klaren „realistischen“ Kurs einschlagen. Wenn sie das nicht schafft, ist ihr nicht mehr zu helfen. Ein Gastbeitrag.

Nun ist es also passiert. Die AfD so stark, die Groko so schwach. Der Schock war groß. Konnte man es kommen sehen? Ja, man konnte. Die Politik einer liberalen Elite war seit Jahren schon eine Art „Life is good“-Politik. Sie handelte nach der Devise: Das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) sei im Wesentlichen erreicht, kleinere Korrekturen inbegriffen (Klima!), und müsse daher nur noch politisch verwaltet werden. Kapitalismus und Demokratie hätten gesiegt. Mit anderen Worten: Man müsse sich keine Sorgen mehr machen, alles werde nun gut, alle Schlachten seien geschlagen, alles gehe seinen richtigen Weg. Die Quintessenz dieser Philosophie lautete: Der liberale Fortschritt ist durch nichts aufzuhalten.

Das war und ist aber eine Realitätsverweigerung. Viele Menschen haben gemerkt, dass die Elite – nicht nur die Wirtschaftselite, sondern auch die politische Elite – keinen Blick dafür hatte, was wirklich vor sich ging. Das fängt bei der „sozialen Frage“ an. Von Mitte-rechts bis Mitte-links gab es in den vergangenen Jahren einen Konsens darüber, dass es uns im Großen und Ganzen gutgeht. Als Beleg dienten die Haushaltsüberschüsse, die gute Konjunktur und die gute Arbeitslosenstatistik. Es gab aber auch Studien und Statistiken, die etwas ganz anderes sagten.

Nur ein paar Beispiele: Leiharbeit in Deutschland ist auf einem Höchststand. Fast eine Million Leiharbeiter gab es 2015 in Deutschland. Der Anteil der befristeten Stellen ist deutlich gestiegen- 45 Prozent der neu eingestellten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben 2016 nur eine befristete Stelle erhalten. Jeder Sechste lebt in relativer Armut. 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche sind von Armut gefährdet. Hartz-IV-Empfänger sind heute länger arbeitslos als noch vor ein paar Jahren. Fast zehn Prozent der Berufstätigen in Deutschland sind trotz regelmäßiger Arbeit als arm einzustufen.

Unsere Marktwirtschaft hat Maß und Mitte verloren

Eine Langzeitbetrachtung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt, dass zwischen den Jahren 2000 und 2012 die Einkommen der obersten zehn Prozent um mehr als 15 Prozent gestiegen sind, wohingegen bei den unteren vierzig Prozent ein Einkommensrückgang zu beklagen ist. Die Branchentarifdeckung lag im Jahr 2000 im Westen bei 63 Prozent und im Osten bei 47 Prozent. Bis 2015 sanken diese Quoten im Westen auf 51 und im Osten auf 37 Prozent. Ungefähr einer von fünf Beschäftigten arbeitete 2014 für Löhne von unter zehn Euro brutto pro Stunde. In Ostdeutschland sogar ein Drittel – gerade da, wo die AfD zuletzt so stark war. In Deutschland entspricht der momentane Mindestlohn (8,84 Euro) nur 43 Prozent des Durchschnittslohns eines Vollzeitbeschäftigten. Laut einer Antwort der Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken hatten im März 2017 3,2 Millionen Menschen mehr als einen Job. Das bedeutet einen Anstieg um eine Million innerhalb von zehn Jahren – seit es Hartz IV gibt. Mittlerweile liegt die Gesamtzahl der geringfügig Beschäftigten bei rund 7,5 Millionen Menschen.