Mode & Design

Nachruf auf Azzedine Alaïa: Bildhauer der Mode

• Bookmarks: 1


Azzedine Alaïa 2015 auf einer Ausstellungseröffnung in Rom: Bis zuletzt machte vieles selbst und hatte nur zwei Assistenten.

Azzedine Alaïa, der den Frauen enge Kleider auf den Leib schneiderte, ist gestorben. Naomi Campbell nannte ihn bis zuletzt „Papa“, und auch viele andere Frauen glaubten daran, dass dieser Designer das höchste Ziel der Mode erreichte.

Seine erste Leidenschaft sollte ihm bei seiner zweiten helfen. Als Sechzehnjähriger studierte Azzedine Alaïa an der Kunsthochschule in Tunis Bildhauerei und lernte dabei viel über den menschlichen Körper. Weil der Sohn eines Bauern aber Geld brauchte, half er seiner Zwillingsschwester Hafida bei ihrer Arbeit in einem Schneider-Atelier – und ließ sich von ihr für das Entwerfen von Kleidern begeistern.

Wie so viele junge Designer aus Tunesien ging er so schnell wie möglich in die Hauptstadt der Mode. Mit 17 Jahren zog er nach Paris und bekam sogar einen Job bei Christian Dior. Das klingt besser, als es war, denn da blieb er nur kurz. In den folgenden Jahren schlug er sich unter anderem als Babysitter, Koch und Haushälter einer Gräfin durch.

Gleichzeitig war er dort der Hausschneider – und lernte all die Damen der besseren Gesellschaft kennen, die später seine Kundinnen werden sollten. Zu seinem Durchbruch verhalf ihm aber nicht die Arbeit für Guy Laroche, Charles Jourdan oder Thierry Mugler. Entscheidend für die Entwicklung seiner eigenen Ästhetik war ein sinnlicheres Paradigma in der Stadt der Liebe und der Libertinage: Ende der Siebziger entwarf der Designer, der nur 1,58 Meter groß war und sich somit nicht über die Frauen erhob, Kostüme für die Tänzerinnen des „Crazy Horse“.

Strategie der künstlichen Verknappung

Christian Louboutin und Jean Paul Gaultier, die sich ebenfalls in Pariser Clubs anregen ließen, sagen immer wieder, was man als Modemacher von Tänzerinnen lernen kann. Denn ihr Job ist anstrengend – und muss ganz anstrengungslos aussehen. Dafür brauchen sie Kleider, die den Körper in den schönsten Formen erscheinen lassen und zugleich größte Beweglichkeit ermöglichen.

Also erfand Azzedine Alaïa mit Leder, Latex, Jersey, weiteren Stretchmaterialien und Reißverschlüssen die körperbetonte Mode. Die achtziger Jahre waren seine Zeit, Grace Jones eine publikumswirksame Werbefigur, und schon kam Naomi Campbell daher, die ihn bis zuletzt „Papa“ nannte. Der Modeschöpfer empfing im Atelier in seiner Wohnung aber auch noch die alte Garde von Marie-Hélène de Rothschild bis Greta Garbo. Aus Prä-Prêt-à-porter-Zeiten wusste er eben noch, dass Frauen verständnisvolle Beratung und individuellen Ausdruck suchen, besonders wenn es um seine Spezialität ging, das auf den Körper geschnittene Abendkleid.

Den Couturier hielt es nicht davon ab, seit den Achtzigern eine Prêt-à-porter-Kollektion auf den Markt zu bringen, um seinen Ruf zu mehren und mehr Geld zu verdienen. Die Strategie der künstlichen Verknappung aber beherrschte er weiterhin: Er gab äußerst ungern Interviews- veranstaltete keine großen Defilees, nur kleine Präsentationen in seinen Atelierräumen an der Rue de Moussy im Marais- fand den sturen Rhythmus der Mode ungesund und hielt sich nicht an die Saisons- schaltete keine Anzeigen, weil die Modemagazine ohnehin gern über ihn berichteten, lieh aber nur wenigen Titeln seine Kleider für Mode-Shootings aus. Azzedine Alaïa bewies also, dass man sich auch still einen Namen machen kann. Das war so unzeitgemäß in der Mode, dass es schon fast wieder spannend war.

Madonna, Lady Gaga und Michelle Obama vertrauten seinem Zauber

Allerdings war der Ruf der Marke größer als der Umsatz. Über mittlere zweistellige Millionensummen ging er nie hinaus. Bis zuletzt machte der Designer vieles selbst und hatte nur zwei Assistenten. So blieben die Kleiderskulpturen des Bildhauers ikonisch, so glaubten die Frauen weiterhin daran, dass dieser Designer, der Brust und Po sanft hob, Bauch und Taille leicht quetschte, das höchste Ziel der Mode erreichte: die Schwerkraft außer Kraft zu setzen. Madonna, Lady Gaga, Michelle Obama und viele andere vertrauten diesem Zauber. Und sogar Johann Rupert fiel ihm anheim. Der Chef des Richemont-Konzerns übernahm vor zehn Jahren die Marke und verwandelte die Bekanntheit des Namens durch ein Parfum und mehr Accessoires in etwas Geld.

Und nun? Am Samstag ist Azzedine Alaïa im Alter von 77 Jahren in Paris an einem Herzinfarkt gestorben. Der tunesische Designer, der nur dunkle Anzüge im Mao-Stil trug, hinterlässt einen Lebensgefährten, den deutschen Maler Christoph von Weyhe, eine große Kostümsammlung mit Hunderten Kleidern von Balenciaga, Rei Kawakubo, Vivienne Westwood, Yohji Yamamoto, Junya Watanabe und anderen, sowie eine Marke, die nach den Läden in Paris und Peking nun den ersten Londoner Flagship-Store an der New Bond Street eröffnen wollte. Ohne den Skulpteur der Mode ist das so gut wie sinnlos.