Die Gegenwart

Weimarer Verhältnisse?: Warum Berlin weit davon entfernt ist, Weimar zu sein

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Berlin am 6. November 1932: Für die Reichstagswahl in Berlin stellen Parteien vor den Wahllokalen Vertreter mit Plakaten auf.

Die Weimarer Republik gilt als ein Lehrstück für die Gefährdung und Selbstgefährdung der Freiheit. Jüngste Entwicklungen in unserer Demokratie scheinen an Zustände während der Weimarer Republik zu erinnern. Eine Bilanz.

Sieben Autoren haben in dieser Zeitung die Frage erörtert, inwieweit jüngste Entwicklungen in unserer Demokratie an Zustände während der Weimarer Republik erinnern und ob das Menetekel der „Weimarer Verhältnisse“ geeignet sei, aktuell empfundene Gefährdungen der Demokratie auf den Nenner zu bringen. Politische Kultur und Medien, Parteiensystem und Wählerbewegungen, die wirtschaftliche und internationale Lage wurden in den Blick genommen, ergänzt um die Perspektive von außen. Zumindest an der Oberfläche mangelt es nicht an aktuellen Entsprechungen: Im Kontext ökonomischer Unsicherheiten und einer erodierenden Weltordnung werden neue Feindbilder konstruiert, gedeihen rechtsradikale Tendenzen und kommt es zu Umformungen des Parteiensystems – alles alte Bekannte aus den 1920er und 1930er Jahren. Aber Geschichte ist immer einzig, sie wiederholt sich nicht und folgt auch nicht regelmäßig wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten. Zwar lassen sich aus ihr gewisse Lehren ziehen, aber nicht im Sinne konkreter Handlungsanweisungen. Geschichte kann niemals die politische Entscheidung in der Gegenwart ersetzen.

Zu den Lehren, die man aus der Geschichte der Weimarer Republik ziehen kann, gehört allerdings ein grundsätzliches Nachdenken über Möglichkeiten und Formen politischer Willensbildung. Angesichts einer begrifflichen Verwirrung über das, was Demokratie sein könne und solle, ist der Blick auf die Weimarer Reichsverfassung höchst nützlich. Denn diese Verfassung war als die „demokratischste“ aller demokratischen Verfassungen gedacht, indem sie die drei idealtypisch fassbaren Formen politischer Willensbildung zu kombinieren suchte, nämlich das repräsentative, das präsidiale und das plebiszitäre Prinzip.

Auch wenn die Verfassung alleine nicht für das Scheitern von Weimar verantwortlich gemacht werden kann, so muss doch festgehalten werden, dass ihr diese Kombination nicht guttat. Aus Sorge vor einem „Parlamentsabsolutismus“ – einer aus der Fehlwahrnehmung des britischen Parlamentarismus erwachsenen Chimäre – ersannen die Verfassungsgeber ein System von checks and balances. Der direkt gewählte Reichspräsident und die Möglichkeit des Volksentscheids auf Reichsebene sollten das Parlament einhegen.

Die Bundesrepublik kennt demgegenüber ein strikt repräsentatives System, und nicht zu Unrecht ist das Grundgesetz geradezu als Anti-Weimar-Verfassung bezeichnet worden. Bei der Konstruktion des Amtes des Bundespräsidenten und des Modus der Wahl des Bundeskanzlers ist dies ganz offenkundig. Ob bei der Zurückweisung direktdemokratischer Elemente tatsächlich auch die negative Erinnerung an „Weimarer Verhältnisse“ entscheidend war, ist indes zweifelhaft. Zwar kennt man das vielzitierte Wort von Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat, nach welchem Volksbegehren und Volksentscheide eine „Prämie für jeden Demagogen“ seien. Einigkeit herrschte nach 1945 auch darüber, dass das Volksbegehren gegen den Young-Plan von 1929 ein Missbrauch der direkten Demokratie war, von dem Hitler und der Nationalsozialismus profitiert hatten. Aber andere Motive wie ein elitär-paternalistisches Politikverständnis und insbesondere der Widerwille, das „Provisorium“ des westlichen Teilstaats mit der Weihe direktdemokratischer Instrumente auszustatten, spielten im Parlamentarischen Rat wohl eine wichtigere Rolle.