Leib & Seele

Wasser lesen lernen

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Die Ruhe vor dem Sturm? Mit jedem Gewässer muss man sich als Schwimmer erst vertraut machen.

John von Düffel ist Schriftsteller, Dramaturg – und passionierter Schwimmer. Sein neuestes Buch ist ein Plädoyer für das Schwimmen als Zweitsprache des Körpers.

Wenn ich einen Schwimmer sehe, male ich einen Ertrinkenden.“ An diesen Satz von Jacques Prévert aus „Le Quai de brumes“ muss ich diesen Sommer oft denken. In Zeiten, in denen die Meere wieder Grenzen oder gar Festungsgräben bilden, hat er neben seiner ästhetisch-poetischen Bedeutung auch eine erschreckend konkrete. Selten zuvor war die Schönheit des Schwimmens so eng verbunden mit dem Gedanken an den Tod im Wasser und der Frage des Überlebens. In dem Maße, in dem die Migration über die Meere zugenommen hat (und die Berichterstattung darüber), schwimmt das schlechte Gewissen des Privilegiertseins bei fast jedem Badeausflug mit.

Ich will nicht so tun, als gäbe es keine Momente sommerlicher Unbeschwertheit mehr im Freibad oder im Baggersee. Doch spätestens bei der Urlaubsplanung lässt sich die Weltlage nicht länger ausblenden. Und vielleicht zeigt sich beim Badetourismus mehr als bei manch anderer Ferienvorliebe, dass viele Selbstverständlichkeiten von einst fragwürdig geworden sind. Die Bilder von gekenterten Flüchtlingsbooten stoßen sich hart im Raum mit den teutonischen Urlaubsträumen vom Mittelmeer. Die gesamte Sandstrand-Romantik scheint endgültig die Unschuld verloren zu haben, die sie vermutlich nie hatte.

Spricht das gegen das Schwimmen? Mal abgesehen von den politischen und moralischen Fragen, die sich im Wasser nicht lösen lassen, kann man nur sagen: im Gegenteil! Vielleicht steht beim Nachdenken über das Schwimmen heute weniger der Sport oder die ästhetik im Vordergrund, sondern seine Bedeutung als Survival-Technik.

Doch damit rückt ins Bewusstsein, wie elementar das Erlernen des Schwimmens war und ist, menschheitsgeschichtlich wie für jeden einzelnen. Wir sind Landwesen. Und bei aller Faszination für das andere Element ist uns eine gewisse Scheu vor dem Wasser eigen, eine natürliche Angst vor dem Unwägbaren, Fließenden und vor der Tiefe.

Ein Kriechstrom von Unheimlichkeit in jedem offenen Gewässer

Der Gang ins Wasser bedeutet auch für einen routinierten Schwimmer eine gewisse Überwindung. Gewohnheit hilft, doch man kann nie wirklich wissen, was einen erwartet. Denn Wasser ist immer anders. Schon ein kleiner Temperaturunterschied, eine stärkere Strömung, ein tieferer Sonnenstand, Wind, Wolken – und das Wasser hat ein anderes Gesicht, bewegt und schwimmt sich anders. Nicht selten verändert es sich im Zuge eines Schwimmausflugs. Wasser ist das Element der Verwandlung. Und bei aller Geborgenheit, dem Getragenwerden und Umhülltsein im Sommer bleibt ein Kriechstrom von Unheimlichkeit in jedem offenen Gewässer.

Der Blick auf die Statistik der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft beweist das. 2016 sind in Deutschland erstmals wieder mehr als 500 Menschen ertrunken: 537. Hauptproblem sind die unbewachten Binnengewässer, Flüsse, Seen, Teiche mit 406 Toten. An den Küsten von Nord- und Ostsee ertranken im Vergleich dazu lediglich 26 Menschen- der Wasserrettungsdienst an den Stränden hat vielen das Leben gerettet. Im Geschlechtervergleich trifft es nur 20 Prozent Frauen. Die Hauptursachen – Leichtsinn, Selbstüberschätzung, Übermut – sind offenbar dominant männliche Eigenschaften. Besonders bitter und tragisch ist der hohe Anteil von 64 ertrunkenen Asylsuchenden in hiesigen Seen und Flüssen.

Schwimmen ist eine Überlebenstechnik. Und es zu erlernen ist so wichtig wie eine Sprache – eine zweite Sprache des Körpers. Im alten Rom mit seiner hochentwickelten Bäderkultur gab es das geflügelte Wort: „Er kann weder schwimmen noch lesen.“ Gemeint war: Er ist ein ungebildeter Mensch. Die Fähigkeit zu schwimmen hatte nicht nur denselben Stellenwert wie das Lesenkönnen. Beides gehörte im Denken der Antike zusammen und ergänzte sich wie Lesen und Schreiben. Schwimmen war ein elementarer Bestandteil der menschlichen Bildung: der körperlichen wie der geistigen. Aus dem panischen Versuch, sich hundepaddelnd oder froschgrätschend über Wasser zu halten, war eine Kulturtechnik geworden.