Gesellschaft

„Aus dir sollte wohl eher ein Junge werden“

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Intergeschlechtliche Menschen haben es im Alltag mit zahlreichen Problemen zu tun (Archivbild).

Auf dem Papier wurde viel getan für Kinder, die nicht eindeutig als Mädchen oder Junge zur Welt kommen. In der Praxis und für ihren Platz in der Gesellschaft bleibt es aber schwierig.

Schon von frühester Kindheit an hat Sandrao gespürt, dass es ein Es war: kein Junge und auch nicht das Mädchen, zu dem seine Eltern es machen wollten. Es widersetzte sich, es sagte: „Ich bin kein Mädchen.“ Doch die Eltern zwangen Sandrao, das damals noch Sandra hieß, Röcke und lange Haare zu tragen, und verboten ihm, mit Autos zu spielen. Sandrao gehorchte, so wie es immer gehorcht hatte. Dennoch sagten Verwandte oft zu ihm: „Aus dir sollte wohl doch eher ein Junge werden.“

Freunde hatte es keine, es war so anders als alle anderen Kinder, dass es sich nicht für sie interessierte und sie sich nicht für Sandrao. Heute noch passt es in keine der beiden Geschlechtskategorien, daher will es ganz bewusst nicht mit den Pronomen „sie“ oder „er“ bezeichnet werden, sondern mit dem für ein drittes Geschlecht. Und weil es das im Deutschen nicht gibt, erduldet Sandrao, 37, das „es“ als Pronomen für sich. Eine Erleichterung ist dieses „es“ trotz allem für Sandrao, weiß es doch überhaupt erst seit zweieinhalb Jahren, dass es ein zwischengeschlechtlicher Mensch ist. Durch Zufall kam das heraus, weil eine Gynäkologin seine Operationsnarben im Genitalbereich entdeckte.

Diese Enthüllung war ein Schock und gleichzeitig auch ein Glücksgefühl: „Mein ganzes Leben lang habe ich gedacht, ich sei ein Monster, das sich verstecken müsse. Und dann war da plötzlich die Erkenntnis: Ich bin ein ganz normaler Mensch, ich bin von der Natur so gemacht worden, wie ich war, bevor die ärzte an mir herumgepfuscht haben. Auf einmal hatte ich Worte für mein Gefühl“, sagt Sandrao.

Sandrao wäre lieber so geblieben, wie es geboren wurde

Herumpfuschen, das ist ein hartes Wort. Ist es gerechtfertigt? Sandrao sagt: Ja. Als es fünf war, wurde es kastriert, das heißt, ihm wurden ein Hoden und ein Eierstock entfernt, weil es eben von jedem eins hatte. Dann wurde das Mittelteil des ebenfalls vorhandenen kleinen Penis herausgeschnitten. Der Rest wurde umgeformt, so dass er nun einer Klitoris ähnelt, und dann die Spitze wieder aufgenäht. Warum man das alles gemacht hat – ob es dafür eine medizinische Notwendigkeit gab, das weiß Sandrao nicht genau, weil seine Eltern ihm als Kind lediglich gesagt haben, es habe „da unten“ mal zwei „Hubbel“ gehabt, und die habe man wegmachen müssen. Seitdem konnte es nie wieder mit ihnen darüber reden, weil sein Vater gestorben ist und seine Mutter sich weigert und die Klinik, in der das alles passiert ist, Sandraos Unterlagen nicht alle herausrückt.

Sicher ist nur, dass Sandrao – wie etwa jedes zweitausendste Kind, das in Deutschland geboren wird – weder Junge noch Mädchen war, als es auf die Welt kam. So haben die ärzte entschieden, was Sandrao sein würde: eine Sandra. Warum? Es sei eben einfacher, ein Loch zu graben, als einen Stab aufzubauen, so hat das kürzlich mal ein Arzt erklärt, mit dem Sandrao sprach.

47787540 Sandrao ist ein intersexueller Mensch. Als es fünf Jahre alt war, entschieden seine Eltern es zu operieren.

Sandrao selbst aber wäre lieber so geblieben, wie es geboren wurde. Es findet, es sei nicht nur kastriert, sondern auch verstümmelt worden. Sehr viele Nerven wurden bei den Operationen zerstört. „Jetzt gleicht das da unten einem toten Stück Fleisch. Es gibt nur eine ganz kleine Stelle, an der ich ein bisschen was spüre.“ Sexuelle Lust verspürt Sandrao nur unter Schmerzen.

Noch immer wird viel zu oft zu früh operiert

Olaf Hiort, Professor für Endokrinologie am Hormonzentrum für Kinder und Jugendliche der Uniklinik Schleswig-Holstein, ist betroffen von Sandraos Fall. Aber er liege weit in der Vergangenheit. Heutzutage sei man zumindest an seiner Klinik sehr viel zurückhaltender, wenn es ums Operieren gehe. Schließlich gibt es seit 2005 entsprechende internationale und seit kurzem auch deutsche Leitlinien, an deren Fassung Selbsthilfegruppen mitgearbeitet haben. Darin steht, dass die ärzte Kinder wie Sandrao nur dann operieren sollten, wenn es aus medizinischen Gründen absolut notwendig sei.