Gesellschaft

„Was muss eigentlich noch passieren?“


„Eine menschengemachte Katastrophe“: In einem Krankenhaus in der Hauptstadt Sanaa wird ein Cholera-Patient behandelt.

Die Menschen im Jemen leiden unter einer verheerenden Cholera-Epidemie. Der Krieg im Land hat die Lage dramatisch verschärft. Jetzt schließt sich eine unübliche Allianz zusammen.

Es ist eine Geschichte, die ein wenig Hoffnung verbreiten soll. Doch Ahmed Zouiten stockt die Stimme, als er von der Rettung einer Cholera-Patientin berichtet. Zouiten ist ein leitender Krisenberater für Nothilfeeinsatz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jemen, wo derzeit eine heftige Epidemie wütet. „Anfangs war ich erschüttert“, sagt der Mediziner.

Die Frau habe schon das Bewusstsein verloren, als sie in die Klinik gebracht wurde. Als wäre sie nur ein Gegenstand, sei sie auf einer dreckigen Decke abgelegt worden. „Aber dann eilten sofort sechs Krankenschwestern herbei.“ Deren beherzter Einsatz habe die Frau gerettet. „Sie haben sie ins Leben zurückgeholt.“ Die Eindrücke aus dem Jemen, von denen Zouiten am Telefon berichtet, gehen ihm hörbar nahe.

Versorgung auf dem Land ist schlechter

Zwei Wendungen tauchen immer wieder auf, wenn Helfer oder UN-Funktionäre angesichts der Cholera-Epidemie im Jemen Alarm schlagen: die von einer „menschengemachten Katastrophe“ und die von einem „Wettlauf gegen die Zeit“. Seit Monaten breitet sich die Seuche im Land aus. Nach den Zahlen der WHO vom Donnerstag sind inzwischen gut 231000 Menschen an Cholera erkrankt. Etwa ein Viertel davon sind Kinder. Jeden Tag kommen rund 5000 Fälle dazu. Mehr als 1400 Menschen sind an den Folgen der Infektionskrankheit gestorben.

Fernsehbilder aus den medizinischen Einrichtungen zeigen ausgezehrte Menschen und erschöpfte ärzte. Viel Zeit haben sie nicht. Die Erkrankten leider unter heftigem Durchfall und Erbrechen, ihnen droht der Tod durch Dehydrierung. „Cholera wartet nicht auf den nächsten Tag. Cholera macht keinen Unterschied, ob der Patient aus der Hauptstadt Sanaa oder einem entlegenen Dorf kommt“, sagt Ahmed Zouiten. In den ländlichen Regionen ist die Versorgung noch schlechter. Vielerorts müssen die Kranken und ihre Angehörigen stundenlange Fußmärsche hinter sich bringen, um die überlasteten medizinischen Einrichtungen zu erreichen.

Die meisten Jemeniten haben mit dem Krieg nichts zu tun

Der Jemen leidet unter einem erbitterten Abnutzungskrieg. Seit mehr als zwei Jahren bekämpfen sich die Houthi-Rebellen und die Regierung. Die schiitischen Houthi werden vom Regime in Teheran unterstützt, die Regierung von einer Koalition, die Saudi-Arabien, der sunnitische Erzrivale Irans, anführt. Die Zivilbevölkerung ächzt unter einem Krieg, mit dem die große Mehrheit der Jemeniten nichts zu tun hat. Schon lange hungern die Menschen, weil die saudisch geführte Koalition mit einer Blockade des Landes Druck auf ihre Gegner ausüben will – und so die Lieferung von Hilfsgütern behindert. Jetzt kommt noch die Cholera-Epidemie dazu. Appelle, die Zivilisten besser zu schützen und ihre Not zu mindern, verhallen ungehört. „Wir wachen jeden Tag auf und fragen uns: Was muss eigentlich noch passieren?“, klagte eine Sprecherin des UN-Kinderhilfswerks Unicef vor einigen Tagen im Sender Al Dschazira.

Der UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien nimmt die Kriegsparteien immer wieder in die Pflicht. Beide Seiten tragen nach seinen Worten eine „gemeinsame Verantwortung“ an der humanitären Katastrophe im Jemen. Auch wenn Cholera-Erkrankungen in dem bitterarmen Land endemisch sind, hat der Krieg entscheidend dazu beigetragen, dass die Seuche nicht mehr einzudämmen war. Schon zu Beginn des Jahres, heißt es in der Hauptstadt Sanaa, hätten Hilfsorganisationen vor einer Katastrophe gewarnt.

Wasserversorgung ist stark eingeschränkt

Der Krieg hat die jemenitische Verwaltung auf zwei entscheidenden Feldern massiv geschwächt: Die Wasserversorgung hat ebenso gelitten wie der Gesundheitssektor, der kurz vor dem Kollaps steht. Cholera wird vor allem durch verseuchtes Trinkwasser verbreitet. Die Funktionäre beider Lager im Gesundheitsministerium arbeiten nur widerwillig zusammen. Seit etwa zehn Monaten hat der bankrotte Staat seine Angestellten nicht bezahlt. Dazu gehört auch das medizinische Personal in den staatlichen Gesundheitseinrichtungen. 274 medizinische Zentren sind zerstört worden – durch Luftangriffe der saudisch geführten Koalition oder durch Plünderungen. Medizinische Güter sind wertvoll.

ähnliches gilt für die Trinkwasseraufbereitung und die Abwasseranlagen. So wiesen die Vereinten Nationen zum Beispiel Mitte Juni auf einen Luftangriff in der Stadt Dhamar hin, der die Stromversorgung für die dortige Wasserversorgung massiv beeinträchtigte. Mehr als eine Million Menschen seien in der Folge einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen, hieß es. Auch die Logistik ist deutlich erschwert. Helfer verbringen viel Zeit damit, Lastwagen mit medizinischen Gütern durch die vielen Checkpoints zu lotsen. Wegen der ausbleibenden Zahlungen hatte auch die Müllabfuhr gestreikt, der Unrat stapelte sich, Regengüsse hatten zugleich die Straßen geflutet. Inzwischen sei zumindest ein Teil des Mülls weggeräumt, berichtet ein Bewohner in Sanaa.

Medizinisches Personal ausbilden

Um die medizinische Versorgung vor dem Zusammenbruch zu bewahren, haben sich nun die WHO, Unicef und die Weltbank zu einer bislang unüblichen Allianz zusammengeschlossen. Sie arbeiten nach den Worten von Ahmed Zouiten gemeinsam daran, die Ausbildung für das medizinische Personal sicherzustellen, die Bevölkerung über die Vorbeugung durch Wasserhygiene aufzuklären und Daten zur Beobachtung der Epidemie zu gewinnen. Zudem sollen ärzte und Krankenschwestern etwas Geld für ihre Arbeit bekommen. Die Bemühungen, sagt Zouiten, zeigten inzwischen Wirkung. Der Kampf sei noch lange nicht gewonnen, die Epidemie breite sich weiter aus. Aber die Todesrate sei inzwischen auf 0,6Prozent gesunken.