Strickjacke und Sauna statt Dreiteiler und Adlon – Helmut Kohl war vielen Intellektuellen nicht gut genug. Das liegt an deren Sicht von Politik. Ein Kommentar.
In die Trauer über den Tod Helmut Kohls mischt sich in Deutschland eine Prise später Wiedergutmachung. Es ist die Würdigung eines großen Staatsmanns, dem es Zeit seines politischen Lebens nicht vergönnt war, von der Intelligentia seines Landes als solcher neidlos anerkannt zu werden. Auf der Bonner Bühne von ihr als „Birne“ verschmäht, auf der Berliner Bühne dann als „Pfälzer“ verniedlicht, folgte den sechzehn Jahren epochemachender Regierungszeit das Scherbengericht über ein „System Kohl“. Selbst im Tod blieb ihm diese Überheblichkeit nicht erspart. Die links-alternative „Tageszeitung“ musste sich für ihre Pietätlosigkeit entschuldigen, über den Tod des Kanzlers auf ihrer Titelseite gespottet zu haben, indem das Bild eines üppigen Grabschmucks mit der Überschrift versehen wurde: „Blühende Landschaften“.
In solcher Geringschätzung Kohls steckte noch einmal das alte Rezept deutscher Intellektueller, im Ulk zu kompensieren, dass hier jemand erfolgreich Politik machte, ohne ihre Lehrbücher und ihre Eitelkeiten zur Kenntnis genommen zu haben. Wenn man schon gegen ihn verloren hatte, wollte man sich doch wenigstens über ihn, den „Instinktpolitiker“, mit weisem Lächeln lustig machen dürfen. Der tumbe Bauer sollte so die Rute der geistigen Aristokratie spüren.
Politik mit dem Saumagen
Nicht nur Linksliberale und die Zeitgeistigen haderten damit, dass hier jemand mit dem Saumagen Politik machte. Auch Konservative behandelten Kohl, als könne er es nicht, als sei er ein Stümper, als verhunze er das Idealbild von Politik. Das ist einer der Gründe, warum sich Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt oder Richard von Weizsäcker zeitlebens für die Besseren hielten und warum das „Aussitzen“ seither zum Repertoire nicht nur linker, sondern auch rechter Kritik an einer Politik gehört, der die „fortschrittliche“ Unruhe, das Fingerschnippen der einfachen Lösungen, das Ideale fehlt.
Pfälzer Provinz: Kohls Wohnhaus in Oggersheim
Das Kohl-Klischee gipfelte am Ende seiner politischen Karriere im Vorwurf, das „System Kohl“ habe sich die Republik wie eine Feudalherrschaft unterworfen. Anlass war die Parteispendenaffäre und Emanzipierung der CDU von ihrem „Schlachtross“. Darin steckte berechtigte Kritik, aber auch die Missgunst darüber, dass hier jemand Macht ausgeübt hatte, die sich weniger auf abstrakte Weisheiten, sondern auf persönliche Beziehungen, Erfahrungen und auf Volkstümlichkeit stützte. Kohl machte, anders als Politiker des kurzen Atems, die Komplexität der Institutionen und Entscheidungen dadurch nicht noch komplizierter, als sie ist, tat aber auch nicht so, als könne alles ganz einfach sein.
Die eigenartige Amnesie der Bundesrepublik
Für die elitären Kritiker jeglicher Art von demokratischem Populismus muss es deshalb bis heute ein Graus sein, dass er die deutsche Einheit zur Sache des Volkes erklärte, das längst begriffen habe, was die ganz Schlauen erst begreifen würden, wenn sie das Leben bestrafe. Vom Stil her ist das Strickjacke und Sauna statt Dreiteiler und Adlon. ästhetiker der Macht sehen darin rückwärtsgewandtes Spießertum, weil sie die Form über- und den Inhalt unterschätzen. Der Schritt von Mainz nach Bonn war aber noch aus einem anderen Grund so groß wie heute der Sprung aus der „Provinz“ nach Berlin – weil dort die Luft dünner, der Ton rauher, Politik unerbittlicher ist, und nicht etwa, weil in der Hauptstadt die politische Zivilisation erst beginnt, während die Provinz im sprichwörtlichen Schlaf versinkt.
Solches Denken in „guter Metropole“ und „böser Provinz“ gehört zu einer eigenartigen Amnesie der Bundesrepublik, dessen Zukunftsträchtigkeit Kohl sechzehn Jahre lang widerlegte. Die Pfalz – oder jede andere historische Landschaft Deutschlands – ist eben nicht ein Hort der Unvollkommenheit oder Rückständigkeit, sondern das große Kleine im kleinen Großen. In diesem Fall äußert sich das in der engen, nachrevolutionären Verbindung zu Frankreich, die Land und Leuten eine frühe republikanische Prägung und gelassene Lebensart gab. Ohne diese Vielfalt deutscher „Provinz“ wäre die Einheit eine ziemlich trostlose Angelegenheit und eben die gesichtslose Machtmaschinerie geworden, die Kritiker Kohls gerade daraus, aus seiner vermeintlich minderbemittelten Herkunft heraus erklären wollten. Es ist eine Ironie der Zeitgeschichte, dass der Kanzler dieser Einheit das architektonische Sinnbild solcher Befürchtungen, das Kanzleramt der Berliner Republik, zwar entwerfen ließ, aber nie bezog.
Die Verdammung eines „Systems“, das auf den Namen Kohl hört, beruht im Grunde auf einem Missverständnis darüber, wie Politik funktioniert. Alle anderen Kanzler haben nicht viel anders regiert, nur eben (noch) nicht so lange. Auch der Vorwurf, die Probleme des Landes „auszusitzen“, ist nicht ein Alleinstellungsmerkmal der ära Kohl. Sein Regierungsstil war vielmehr ein nur noch von Konrad Adenauer übertroffenes Konzentrat der Mittel, die Verfassung, Parteien und Parlament zur Verfügung stellen. Man kann davon fasziniert sein, aber auch tief ernüchtert. Denn diese Politik hält sich nicht an die in Deutschland weitverbreitete Sehnsucht nach einer Versöhnung von Geist und Macht, hält keinerlei Erlösung von den Zwängen einer komplizierten Welt bereit, sondern gehorcht dem einfachen Lehrsatz des Pfälzers: „Entscheidend ist, was hinten bei rauskommt.“
To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video
Trauer um Helmut Kohl von Oggersheim bis in den Vatikan