Mensch & Gene

Ist das Gehirn fremdgesteuert? Endlich befreit!


Entscheidet unser Gehirn unbewusst, ist der freie Wille eine Illusion? Nach Jahrzehnten haben Berliner Hirnforscher die berühmte These mit einem raffinierten Spiel gegen den Computer widerlegt.

Es war – und ist – eine der radikalsten Thesen, mit denen Hirnforscher die offentlichkeit konfrontierten: Lange bevor wir uns bewusst entscheiden, etwas zu tun, hat das Gehirn die Entscheidung unbewusst längst vorweggenommen. Der freie Wille des Menschen, bloß Einbildung? Die Versuche des amerikanischen Hirnphysiologen Benjamin Libet hatten das nahegelegt. Gut eine Sekunde, bevor Probanden sich bewusst entschlossen, ihre Hand zu bewegen, war in den Hirnstromkurven das „Bereitschaftspotential“ dafur schon zu finden. Dreieinhalb Jahrzehnte lang haben die einen, meist Hirnforscher, alles versucht, um Politik, Philosophie und die Architekten und Huter des Rechtsstaates, die sich mit der Schuldfähigkeit von Straftätern auseinanderzusetzen haben, wachzurutteln und die Folgen dieser Erkenntnis zu bedenken. Alle anderen wehrten sich mit Händen und Fußen und noch mehr Worten dagegen, sich den Kopf waschen zu lassen mit wissenschaftlichem Material, das gegen den gesunden Menschenverstand und die eigene Erfahrung verstoßt.

Heute kann man feststellen: Dem gesunden Menschenverstand ist zu vertrauen. Der freie Wille ist nicht totzukriegen. „Die Libet-Experimente sind obsolet.“ John-Dylan Haynes, der das behauptet, gehort selbst zu den eifrigsten Experimentatoren, und er ist weit davon entfernt, die Widerlegung der beruhmten Libet-Experimente als Niederlage der Hirnforschung zu betrachten. Aber nach der Veroffentlichung seiner jungsten Ergebnisse in den „Proceedings“ der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften steht fur ihn fest: Das gemessene „Bereitschaftspotential“ sei jedenfalls kein Beweis dafur, dass der Mensch seine Entscheidungen durch das Gehirn diktiert bekommt. „Diesen Determinismus gibt es nicht.“

Neurowissenschaftlicher CampusModell des menschlichen Gehirns.

Der Hirnforscher, der am Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charit seit Jahren mit allen moglichen bildgebenden und elektrophysiologischen Verfahren in die Entscheidungszentren unseres Gehirns zu blicken versucht, hat schon viele „vorbereitende Hirnwellen“ identifiziert. Tatsächlich hinterlassen viele Handlungen mitunter zehn Sekunden vor der Entscheidung des bewussten Ichs eine elektrische Spur in bestimmten Hirnarealen. Der entscheidende Punkt aber ist: Nichts spricht bisher dafur, dass diese Hirnstrome das Handeln steuern, dass unser freie Wille eine Illusion ist. In den jungsten Experimenten, seinen, wie Haynes sagt, „wichtigsten Versuchen der letzten dreißig Jahre“, hat er zusammen mit Benjamin Blankertz und Matthias Schulze-Kraft von der TU Berlin gezeigt: Das ominose Bereitschaftspotential kann quasi uberstimmt werden, die vermeintlich vorbestimmte Handlung noch willentlich und aktiv gestoppt werden.

Grundlage dafur ist eine Studie mit einem Dutzend Probanden am Computer. Die Versuchsteilnehmer traten in einem „Hirnduell“ gegen einen Rechner an, während mit Elektroden die Hirnstrome und die Beinmuskulatur uberwacht wurden. Insgesamt 326 Mal sollte jeder Proband Punkte sammeln und versuchen, ein Fußpedal während einer „Grunphase“ zu treten. Tritt er es, sobald das Rotsignal auf dem Bildschirm erscheint, gibt es Punktabzug. Der Computer war nun so trainiert, dass er anhand des Bereitschaftspotentials vorhersagen konnte, wann sich ein Proband bewegen wurde. In dem Fall erschien das rote Stoppsignal. Wurde der Proband jetzt noch das Pedal treten, gäbe es Punktabzug. Das Ergebnis war allerdings oft anders. Die Versuchsteilnehmer konnten ihre Bewegung, nachdem dem Computer bereits die Bewegungseinleitung durch die Hirnstromkurve signalisiert wurde, noch rechtzeitig stoppen. Nur wenn das Rotsignal unmittelbar vor dem Pedaltritt aufschien, war der Computer nicht mehr zu uberlisten. Der „Point of no return“ lag bei 200 Millisekunden. Trotzdem: Selbst danach, wenn die Fußbewegung also bereits eingeleitet war, konnten die Probanden ihre Handlung noch ändern, die Aktion komplett unterbinden. Haynes: „Das bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist als gedacht.“

Die Berliner Hirnforscher durften damit einerseits die Kritiker besänftigen, die sich seit Jahrzehnten an den neurowissenschaftlichen Experimenten abarbeiten. Andererseits haben sie deren mitunter polemische Fundamentalkritik mit wissenschaftlicher Manier pariert: Denn nicht durch weniger Wissenschaft, sondern mit mehr Forschung konnte man die Libet-Gespenster loswerden.