Europäische Union

Streit über Einwanderung: Deutschland und Ungarn sind sich uneins

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Budapest schimpft auf Berlin, Berlin auf Budapest. Wer verletzt im Streit über die Flüchtlingswanderungen von Ungarn nach Deutschland die europäischen Regeln?

Streit zwischen Staaten wird uberwiegend hinter verschlossenen Turen ausgetragen, das gilt allemal fur Mitglieder der Europäischen Union. Insofern ließ es schon aufhorchen, als der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, am Freitagvormittag von einem Telefonat zwischen Kanzleramtsminister Peter Altmaier und dem ungarischen Botschafter in Berlin, Jozsef Czukor, berichtete. Am Morgen habe Altmaier dem Diplomaten die deutsche Position erläutert, sagte Seibert und ergänzte, dass die Bundesregierung darauf setze, dass Ungarn als „Teil der westlichen Wertegemeinschaft seinen rechtlichen und humanitären Verpflichtungen“ gerecht werde.

Es geht, wie sollte es in diesen Tagen anders sein, um Asylsuchende. Der Streit zwischen Berlin und Budapest schaukelt sich hoch, seit immer mehr Menschen uber die sudliche Grenze Ungarns von Serbien aus in die EU kommen. Nach dem Dublin-Verfahren mussen diese Personen in Ungarn ein Asylverfahren eroffnen. Viele wollen aber lieber nach Deutschland. Von dort mussten sie eigentlich wieder zuruckgeschickt werden. Nun hat die Bundesregierung aber zumindest den syrischen Kriegsfluchtlingen zugerufen, dass sie auch dann in Deutschland bleiben durften, wenn sie uber Ungarn gekommen seien und dort nicht um Asyl nachgesucht hätten. Die ungarische Regierung schimpft, dass das ein Verstoß gegen das europäische Regelwerk sei. Die Bundesregierung wiederum schimpft auf die Ungarn, weil die zu viele Fluchtlinge weiterziehen ließen, ohne dass diese Asyl beantragt hätten.

Deutsche Ankundigung war zulässig

Zunächst zum deutschen Verhalten. Zwar durfte die Ankundigung der Bundesregierung, syrische Fluchtlinge wurden nicht zuruckgeschickt, tatsächlich eine gewisse Sogwirkung entfaltet haben. Die Fachleute nennen das einen Pull-Faktor. Doch ist es keineswegs ein Verstoß gegen das Dublin-Verfahren. Dieses sieht – in schonstem Burokratensprech – den Selbsteintritt vor. Wenn ein Land entscheidet, Fluchtlinge, die eigentlich in einem anderen EU-Land Asyl hätten beantragen mussen, dieses aber unterlassen haben, bei sich zu behalten, so ist das zulässig.

Es ist erst einige Jahre her, dass deutsche Verwaltungsgerichte die Ruckuberstellung von Fluchtlingen von Deutschland nach Griechenland nach dem Dublin-Verfahren aussetzten, weil in Griechenland weder ein geregeltes Asylverfahren noch die Einhaltung europäischer Sozialstandards gewährleistet seien. uberstellungen nach Griechenland fanden daraufhin nicht mehr statt. Regierungssprecher Seibert bezog sich am Freitag ausdrucklich auf das Verfahren des Selbsteintritts, als er begrundete, wieso Berlin syrische Fluchtlinge derzeit nicht zuruck nach Ungarn schicke.

Nun zu Ungarn und dem Vorwurf, es lasse Migranten weiterziehen, ohne dass ein Asylverfahren eroffnet worden sei. Bisher galt Italien in dieser Hinsicht als besonders schwieriger Fall. Im vorigen Jahr kamen zwar 180.000 Migranten – uberwiegend uber das Mittelmeer – nach Italien. Es wurden aber nur 43.000 Asylanträge gestellt. Knapp 140.000 Menschen reisten also weiter nach Norden, viele nach Deutschland, und konnten dort um Asyl nachsuchen. Deutschland ist als Ziel so beliebt, weil es ein besonders liberales Asylrecht hat und sehr hohe Standards. Als das Dublin-Verfahren 1990 vereinbart wurde, war das schon Thema. Die Zahl der nach Deutschland strebenden Migranten erreichte damals die bislang ungekannte Hohe von 200.000, stieg innerhalb weniger Jahre sogar in Richtung einer halben Million, und es war nicht geklärt, welches Land fur das Asylverfahren zuständig ist.

Ungarn auf Platz funf bei Einwanderung

Wie nun verhält sich Ungarn? Hält es die Dublin-Vorschriften ein? Zunächst muss gesagt werden, dass das Land mit seinen nicht ganz zehn Millionen Einwohnern in Sachen Migration unter enormen Druck geraten ist, seit so viele Menschen uber die Balkanroute in die Europäische Union wollen. Das EU-Land, in dem die mit Abstand meisten Asylanträge gestellt werden, ist nach Zählung des europäischen Statistikamts Eurostat Deutschland, es folgen Schweden, Italien und Frankreich, aber schon auf Platz funf steht Ungarn. Fur das vorige Jahr weist die Statistik annähernd 43.000 Asylbewerber in Ungarn aus. Wohlgemerkt: Bewerber. Das ist eine Steigerung von 126 Prozent gegenuber dem Vorjahr. Nur in Italien fiel die Steigerung noch deutlicher aus. Damit hat Ungarn einen hoheren prozentualen Anteil an Asylbewerbern in der EU als Großbritannien.

162.000 illegale Grenzubertritte

Zur Gegenwart. Am Freitag teilte die ungarische Grenzpolizei mit, dass sie bisher in diesem Jahr mehr als 162.000 illegale Grenzubertritte nach Ungarn gezählt habe, fast alle an der serbisch-ungarischen Grenze. Allein in den zuruckliegenden 24 Stunden seien es mehr als 3000 gewesen. Jede dieser Personen wird von den Behorden gefragt, was sie in Ungarn wolle. Wer bei Verstand ist, sagt, er suche Asyl, weil ihm sonst Strafen drohen. Da die Fluchtlinge heutzutage uber das Internet gut informiert sind, wurden von den ungarischen Behorden mehr als 150.000 Menschen registriert, die sagten, sie suchten Asyl. Sie wurden dann weitergeschickt an Orte, an denen sie formal ein Asylverfahren eroffnen sollten.

Dort kamen – so berichtet es die Konrad-Adenauer-Stiftung – allerdings nur annähernd 67.000 Migranten an und stellten einen Antrag. Dem nämlichen Bericht der Adenauer-Stiftung zufolge wurde in 54.000 Fällen die Prufung des Asylantrags abgebrochen, weil die Antragsteller „verschwunden“ seien. Es sei „davon auszugehen“, dass ein Großteil von ihnen nach Deutschland weitergezogen sei. Zumindest was die Syrer angeht, mussen sie nicht furchten, zuruckgeschickt zu werden, sofern sie es bis nach Deutschland schaffen. Und die Nicht-Syrer? Die mussen sehen, was passiert.

P.S.: Die Bundesregierung bestätigte am Freitag, dass der Zoll Pakete mit echten und gefälschten syrischen Pässen gefunden habe.