Die Gegenwart

Ludger Kühnhardt: Die Europa-Rettung

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„Mehr“ Europa wäre manchmal nicht schlecht, „weniger“ Europa manchmal auch. Wie aber könnte eine „bessere“ Europäische Union aussehen? In den vergangenen Jahren wurden erste Konturen wirklich europäischer Innenpolitik sichtbar.

In weniger als drei Monaten wird das Europäische Parlament gewählt. Anschließend müssen die Spitzen der EU, der Europäischen Kommission, des Europäischen Rats und der jungen Außen- und Sicherheitspolitik neu bestimmt werden. Während vor der Bundestagswahl 2013 das Thema Europa kaum eine Rolle gespielt hatte, wird es in den kommenden Monaten allerorten in der Europäischen Union tendenziell umgekehrt sein: Allzu häufig wird über die jeweilige nationale Politik geurteilt, auch wenn von der Europäischen Union die Rede ist. Ein genuin europäischer Wahlkampf bleibt wohl so lange ein Wunschtraum, wie es kein einheitliches europaweites Wahlrecht und darauf aufbauend EU-weite Listen der Parteien und ihrer Kandidaten gibt, die sich zur Wahl stellen. Gleichwohl sind nationale und europäische Politik – und ihre jeweiligen Folgen – mittlerweile so stark miteinander verschränkt wie nie zuvor.

Zu den bemerkenswerten Begriffsverschiebungen, die sich im Verlauf der Euro-Rettungspolitik ergeben haben, gehört die Neudefinition der Vokabel „Politische Union“. Als dieser Begriff mit dem Vertrag von Maastricht (in Kraft seit dem 1. November 1993) in die Eurosprache eingeführt wurde, war damit in Abgrenzung zum gleichzeitig verabschiedeten Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion das Entscheidungsgefüge der EU-Institutionen gemeint. Es ging um Mehrheitsentscheidungen, die zu einer gleichgewichtigen Rolle des Europäischen Parlaments neben dem Europäischen Rat führen sollten, und um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Wenn heute von „Politischer Union“ gesprochen wird, ist oftmals das gemeint, was die EU-Akteure eine „genuine Wirtschafts- und Währungsunion“ nennen. Das mag daran liegen, dass der Begriff eine Worthülse ist, die jede interessierte Seite mit einem ihr genehmen Inhalt füllen kann. Die Sache selbst verschwindet hinter diesem Begriffsnebel.

Gleichzeitig hat sich die EU infolge der bisherigen Euro-Rettungspolitik transformiert: Ohne Änderungen der europäischen Verträge wurden neue Ziele in der Eurozone etabliert, teilweise auf Basis der neuen Möglichkeiten des Lissabon-Vertrages (in Kraft seit 1. Dezember 2009), teilweise aber auch auf dem traditionell völkerrechtlichen, also zwischenstaatlichen Weg. Die Spannweite dieser Ziele reicht von sanfter „Koordination“ bis zu härteren Formen der „Steuerung“. Zu deren Verwirklichung mussten neue Instrumente erfunden werden, von unverbindlichen „Empfehlungen“ über striktere „Sanktionen“ bis zu nebulösen „zu befolgenden Maßnahmeempfehlungen“.

Aus all dem erwuchsen wie selbstverständlich neue Formen des Selbstverständnisses der EU. Dieses ist heute mehr denn je geprägt von der exekutiven Dominanz des Geschehens durch den Europäischen Rat und die Europäische Zentralbank. Diese exekutivdominierte Weiterentwicklung der Eurozone zu einer „Politischen Union“ wirft indes die Frage nach der demokratischen Legitimität und nach dem Ort der Macht in der EU auf. An erster Stelle wäre es aber wohl geboten, wieder Klarheit über Begriffe und deren politischen Inhalt zu gewinnen, die hinter der technischen „Eurospeech“ zu vernebeln drohen.