Gesellschaft

Magersucht-Therapie: Der Kampf am Tisch

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Magersucht ist die tödlichste aller psychischen Krankheiten. Eine Behandlung aus England setzt nun auf die Eltern der kranken Jugendlichen, die in die Rolle des Therapeuten schlüpfen. Das kann helfen – verlangt der Familie aber auch viel ab.

PreviewPagemarker“ id=“pageIndex_1″>Der Dämon kommt am späten Abend. Kitty rast durchs Kinderzimmer, kreischt und schlägt ihrer Mutter eine Flasche aus der Hand, so dass sich die Flüssigkeit an den Wänden und auf dem Boden verteilt. Sie hämmert mit der geschlossenen Faust gegen den eigenen Kopf. Kittys Eltern versuchen vergeblich, ihre vierzehn Jahre alte Tochter davon abzuhalten, sich weiter selbst zu verletzen. Schließlich geben sie ihr ein Beruhigungsmittel, das sie für den Notfall bekommen haben, und halten sie im Arm, bis sie einschläft. Kitty sollte vor dem Zubettgehen einen Toast mit Butter essen. Das war zu viel für ihre Magersucht – den Dämon, wie Kittys Eltern die Krankheit ihrer Tochter nennen.

Kittys Mutter, Harriet Brown, ist eine in Amerika bekannte Journalistin. In ihrem Buch „Brave girl eating“, das 2013 auch auf Deutsch erschienen ist, erzählt sie vom Kampf ihrer Familie mit der Magersucht. Von solchen schier unerträglichen Szenen beim Essen. Davon, wie wichtig es war, immer standhaft zu bleiben. Und wie sie mit der sogenannten familienbasierten Therapie (FBT) oder Maudsley-Methode das Leben ihrer Tochter retten konnte. Bei dieser hierzulande vergleichsweise unbekannten Therapie handelt es sich um einen ambulanten Ansatz aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien, der mit traditionellen Behandlungen insofern bricht, als die Eltern die komplette Verantwortung für Essen und Gewicht ihrer Kinder übernehmen, nicht Ärzte oder Therapeuten. „Life stops until you eat“, lautet ein Prinzip: Das Leben steht still, bis du gegessen hast. Die Wiederernährung der oft erschreckend abgemagerten Kinder ist das dringlichste Ziel, Essen die wichtigste Medizin.

Bei allen anderen Krankheiten werden die Eltern einbezogen

Magersucht gilt als gefährlichste aller psychischen Erkrankungen. Rund zehn Prozent der Betroffenen sterben auf lange Sicht, weit mehr als bei Depressionen oder Schizophrenie. Und die Patienten werden immer jünger. Schon Sieben- und Achtjährige hungern sich manchmal fast zu Tode. Klinikaufenthalte verhelfen den Kindern und Jugendlichen zwar meist zu einem höheren Gewicht. „Dennoch erleiden bis zu 50 Prozent innerhalb eines Jahres nach der Entlassung einen Rückfall mit erneuter Abnahme“, heißt es in einer aktuellen deutschen Studie zu Behandlungsoptionen. Hier setzt die FBT an. Sie nimmt die Familien ins Zentrum, also die Umgebung, in der die Patienten spätestens nach einer stationären Therapie selbst zurechtkommen müssen.

Die Methode wurde in den achtziger Jahren von Kinder- und Jugendpsychologen am Londoner Maudsley Hospital entwickelt. Sie bemerkten, dass es die Krankenschwestern immer dann schafften, Magersüchtige zum Essen zu bringen, wenn sie bei ihnen sitzen blieben, ihnen den Rücken massierten, sie ermunterten, oft über Stunden. „Sie haben es für die Patienten unmöglich gemacht, nicht zu essen“, sagt Daniel Le Grange. Der Psychiatrieprofessor und Leiter des Essstörungsprogramms an der University of Chicago gilt als einer der Pioniere der FBT. In der kommenden Woche wird er die Methode auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen vorstellen, die in Leipzig stattfindet.