Natur

Naturphänomen: Das Geheimnis des Seehund-Mannes

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Der Nordatlantik ist schon vielen zum Verhängnis geworden. Vor 30 Jahren überlebte ein Isländer sechs Stunden im eiskalten Meer – nicht nur eine Eigentümlichkeit seiner Haut rettete ihn.

Was haben ein kariertes Hemd und eine rissige Jeans hinter Glas zu suchen? Die Kleidungsstücke, die Guðlaugur Friðþórsson am 11. März 1984 trug, sind heute fester Bestandteil der Ausstellung im Museum der Vestmannaeyjar, einer Inselgruppe vor der Südküste Islands. Denn sie zeugen von der erstaunlichen Geschichte eines damals 23-jährigen Mannes, den die Isländer später den Seehund-Menschen nannten.

Er ist Fischer. Seit Jahrhunderten leben die Menschen der Vestmannaeyjar vom Atlantik. Dass der eine Bedrohung sein kann, wissen auch die fünf jungen Männer, die am frühen Morgen jenes Sonntags vor dreißig Jahren mit dem Trawler „Hellisey VE 503“ den Hafen von Heimaey verlassen, der einzigen bewohnten Insel Vestmannaeyjars. Deckoffizier Guðlaugur Friðþórsson, genannt Laugi, ist ein 1,93 Meter großer, kräftiger Mann. Er wiegt über 125 Kilo und gilt nicht gerade als sportlich.

Ganz allein in den Weiten des Atlantiks

Den Tag über läuft alles wie geplant. Die Fischer haben ihr Grundschleppnetz ausgeworfen. Doch dann, es ist schon Abend, verhakt es sich plötzlich am Meeresboden. Das Schiff kentert so schnell, dass die Crew nicht einmal mehr einen Notruf absetzen oder das Rettungsboot losmachen kann. Zwei Männer sterben sofort, die anderen drei klammern sich am Schiffskiel fest. Aber sie haben eigentlich keine Chance. Sechs Kilometer sind sie von ihrem Heimathafen entfernt, zur Hauptinsel Islands ist es noch weiter.

Es ist bereits dunkel, niemand weiß von ihrer Havarie und vor allem: Das Wasser ist kalt. Fünf, höchstens sechs Grad Celsius. Normalerweise stirbt man unter diesen Umständen nach spätestens 75 Minuten an Hypothermie, also Unterkühlung. Anfangs versucht der Organismus seine Körpertemperatur von 37 Grad zu halten. Dann beginnt sie zu sinken. Das schwächt das Urteilsvermögen, man wird apathisch, dann bewusstlos. Schließlich bricht der Kreislauf zusammen, es kommt zu Lungenödemen und Herzrhythmusstörungen, am Ende zum Atemstillstand.

Um 21 Uhr 40 sinkt die „Hellisey VE 503“, die Männer sind nun bereits eine halbe Stunde im Meer. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als in Richtung Küste zu schwimmen. Bereits nach wenigen Minuten verliert Laugi die beiden anderen aus den Augen. Er wird sie nie wiedersehen. Später wird er aussagen, dass dies einer der schwierigsten Momente für ihn war: Als er erkannte, dass er ganz allein war in den Weiten des Atlantiks.

Der junge Mann schwimmt weiter durch die klare Winternacht. Möwen kreisen die ganze Zeit über seinem Kopf. Er trägt nur jenes rotkarierte Hemd und die Jeans. Seine Schuhe hat er nicht mehr. Über sechs Stunden lang schwimmt Guðlaugur Friðþórsson um sein Leben.

In den frühen Morgenstunden des 12. März erreicht er die Küste südöstlich von Heimaey. Doch die Klippen sind dort zu steil, um an Land zu kommen. Also lässt er sich wieder ins Meer treiben und schwimmt zu einer zugänglicheren Stelle. Bis heute beeindruckt Experten, dass der Fischer zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch in der Lage war, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das rettete ihm das Leben. Hätte er sich an den Klippen erst einmal ausgeruht, wäre er vermutlich gestorben.

Mit blutenden Füßen zurück ins Dorf

An Land muss Guðlaugur zunächst einen steilen Berg erklimmen und barfuß über zerklüftete Lavafelder laufen. Sie sind hier nicht von Moos bewachsen, sondern spitz und kantig. Es ist, als würde er über Rasierklingen balancieren. Zwei Stunden dauert die Tortur. Immerhin entdeckt er unterwegs eine Badewanne, die als Wassertrog für Schafe aufgestellt wurde. Mit bloßer Faust schlägt er ein Loch in die zentimeterdicke Eisschicht und trinkt etwas. Danach schleppt er sich mit blutenden Füßen ins Dorf hinunter.