Die Gegenwart

Zuwanderung: Dort lasst euch ruhig nieder

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Ende 1973 beendete die Bundesrepublik die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Dieser Schritt verstärkte ungewollt eine Entwicklung, die schon zuvor begonnen hatte. Die Menschen, die als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen waren, richteten sich auf Dauer hier ein. Die deutsche Politik reagierte widersprüchlich. Bis zu einer Weiterentwicklung des Ausländerrechts sollten noch zweieinhalb Jahrzehnte vergehen.

Am 23. November 1973 sandte Walter Arendt, der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, ein Fernschreiben an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit. „Es ist nicht auszuschließen, dass die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird“, schrieb der SPD-Politiker. Unter diesen Umständen sei es „nicht vertretbar, gegenwärtig weitere ausländische Arbeitnehmer über die Auslandsstellen der Bundesanstalt für Arbeit für eine Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik zu vermitteln. Nach Zustimmung durch das Bundeskabinett bitte ich, . . . die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit – ausgenommen die deutsche Kommission in Italien – anzuweisen, mit sofortiger Wirkung die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer einzustellen. Diese Maßnahme gilt bis auf Widerruf.“

Die Anweisung ging als „Anwerbestopp“ in die Geschichte der Bundesrepublik ein und wurde zu einem Symbol für die zu Ende gehende Nachkriegsära mit kontinuierlich hohem Wirtschaftswachstum. Mit zahlreichen Modifikationen galt sie bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005. Bis dahin hatte der Anwerbestopp einen Prozess befördert, der eigentlich vermieden werden sollte: die dauerhafte Niederlassung der „Gastarbeiter“ und ihrer Familien in der Bundesrepublik.

Blickt man auf die Anfänge der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zurück, die mit dem Fernschreiben vom November 1973 zu Ende ging, so ist diese gekennzeichnet von der Vorherrschaft der Exekutive. Bis weit in die siebziger Jahre hinein wurden wesentliche Entscheidungen getroffen, ohne dass der Bundestag beteiligt worden wäre. Das Parlament hatte weder über das erste Anwerbeabkommen mit Italien 1955 diskutiert, noch sollte es 18 Jahre später über den Anwerbestopp beraten. Erst im Zuge der innenpolitischen Polarisierung in den siebziger Jahren trat der Bundestag als „Mitspieler“ in Erscheinung. Daher kann man auch erst seit dieser Zeit von einer eigenständigen „Ausländerpolitik“ sprechen.

Über fast zwei Jahrzehnte hinweg hatten die Bundesregierungen ausgeführt, was die Repräsentanten der Wirtschaft von ihnen verlangten. Das Kabinett entschied über die Anzahl der anzuwerbenden „Gastarbeiter“ ebenso wie über deren regionale Verteilung. Dazu hatte auch die Ausgestaltung des Anwerbeverfahrens beigetragen. Die Interessen der Arbeitgeberseite waren sehr wohl aufgenommen, die der Gewerkschaften weitgehend übergangen worden.

Die Unternehmen und ihre Verbände vermochten zudem zu verhindern, dass die ursprüngliche Absicht verwirklicht wurde, die Arbeitsverträge zu befristen. Eigentlich sollten die ausländischen Arbeitskräfte nach einer bestimmten Zeit in ihre Heimatländer zurückkehren und neue angeworben werden. Die Arbeitgeber scheuten die Kosten, die mit diesem Rotationsverfahren verbunden gewesen wären. Damit bereiteten sie den Boden dafür, dass sich die „Gastarbeiter“ in Deutschland heimisch fühlen konnten. Rückblickend gestand Josef Stingl, der langjährige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, im Jahr 1983 ein: „Damals haben Herr Schleyer (der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) und mit ihm die meisten Arbeitgeber . . . eine solche Politik de facto aber abgelehnt, weil er sagte, das kostet uns viel Geld, da müssen wir alle fünf Jahre neue Leute anlernen. Ich habe das für einen Fehler gehalten, und es zeigt sich jetzt, dass es ein Fehler war.“