Gesellschaft

Wer soll denn den Schnee machen?

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Zur Weihnachtszeit ist der Yeti im New Yorker Kaufhaus Saks ein Hit. Erdacht hat ihn der deutsche Grafikdesigner Stefan Bucher.

Große Augen machen die Kinder, die sich vor den Schaufenstern des Kaufhauses Saks an der New Yorker Einkaufsmeile Fifth Avenue drängen. Größere Augen hat der Star, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er gehört da eigentlich nicht hin zwischen die eleganten Menschen, die sich im prall gefüllten U-Bahn-Waggon eines Zuges mit der Nummer 7 schmal machen. Weder Hut noch Anzug trägt er, keinen Schlips und keine Schuhe. Ein ungekämmter Naturbursche im zotteligen Ganzkörper-Outfit, von wer weiß woher hereingeschneit.

Ihm hat niemand gesagt, was in New York schon jedes Kind lernt: dass man die anderen Passagiere in der U-Bahn nicht anstarren soll. Die Verlegenheit des Neuankömmlings spricht aus seinem Blick, aber er lächelt reichlich ungeniert. Schön warm muss er es haben, er fühlt sich wohl in seiner Haut. Sein Fell ist weiß wie ein Computerbildschirm direkt nach dem Anknipsen. So viel ihm unbekannt ist, so wenig entgeht ihm. Er bemerkt, dass das Augenmerk des Herrn mit der Zeitung in der Hand nicht den schwarzen Buchstaben auf dem grauen Papier gehört, sondern der Dame im knallroten Kleid, scheinbar dünner als jede Schaufensterpuppe, die ihr gepudertes Gesicht im Schminkspiegel studiert. Er, der sich noch nie rasiert hat, fällt hier nicht auf. Wie ihn daheim der unendliche Weißraum verschluckt hat, so taucht er in der bunten Menge unter. Zwei haben einander gefunden: das Fabeltier und die tolle Stadt, der Yeti und New York.

Präsentation bei Saks geht in die Breite

Die Festtagsdekoration der Kaufhäuser gehört zum Advent in New York wie Händels „Messias“ und der Weihnachtsbaum am Rockefeller Center. Und wie die Zuhörer beim „Messias“ wie ein Mann aufstehen, wenn der Chor das „Halleluja“ schmettert, so recken sich die Schaulustigen vor den Hinterglas-Tableaus, die zumeist der Weihnachtsbaumästhetik verpflichtet sind: langbeinige und feingliedrige Puppen, über und über behängt mit Luxusartikeln. Dagegen geht die Präsentation bei Saks in die Breite. Eine Geschichte wird entrollt, ein Epos, dessen Held um die halbe Welt zieht, von Sibirien nach Queens und von Queens dann mit dieser U-Bahn Nummer 7, mit der Menschenmenge nach Manhattan, zur Fifth Avenue. Sein Schöpfer hat einen ebenso weiten Weg zurückgelegt: Der deutsche Illustrator und Grafikdesigner Stefan G. Bucher, geboren 1973, arbeitet seit zwei Jahrzehnten in Kalifornien.

Buchers Yeti ist jetzt schon im dritten Jahr im weihnachtlichen Einsatz. Er begann seine Karriere 2011 als Stofftier. Seit vielen Jahren sorgt bei Saks eine Lichtmaschine dafür, dass in den Nächten der Adventszeit Schnee vom Dach rieselt. In der Marketing-Abteilung verfiel man auf den Gedanken, dass kein Wunder komplett ist ohne seine Erklärung. Wer macht den Schnee auf dem Dach? Na, wer wohl? Ein Schneemensch. Bucher, zu dessen Kunden Madonna, Sting, David Hockney und The Blue Man Group gehören, empfahl sich für den Auftrag wohl durch seine Fertigkeit in der blitzschnellen Formgebung von Ungeheuern. Hundert Tage lang hatte er sich dabei gefilmt, wie am Zeichentisch ein „tägliches Monster“ entstand. Ein Tintenfleck wuchs sich mit ein paar Strichen zu einem Charakterkopf mit Charakterärmchen und Charakterschweif an Charakterwampe aus. Diese schwarzen Gesellen waren allesamt sehr wetterfühlig, ihr Haar kräuselte sich bereits im leisesten Gesäusel, und so durfte man in ihrer Verwandtschaft getrost einen Schneemacher vermuten.

An einem Wochenende entwarf Bucher vierzig Charaktere, gestauchte und gestreckte Wuselmänner, breitarmige und langrüsselige Untiere, vierschrötige und gespaltene Naturen. „Und dann“, so erzählt er, „haben sie genialerweise gesagt: Such dir einen aus!“ Die Wahl des stolzen Vaters fiel auf einen kompakten Untergattungsvertreter, dessen Bestimmung man seinem Umriss ablesen kann: Er kommt daher als Schneeball auf zwei Beinen. Die Kugelform lässt an die Perfektion jeder einzelnen Schneeflocke denken.

Zwanzigseitiges Heftchen mit Ratschlägen für schonende Behandlung

Bucher holte den Rat einer Freundin ein, die viele Jahre lang mit der Stofftierentwicklung bei der Firma Mattel befasst war. „Einer der größten Tricks ist, dass das Tier allein stehen kann.“ Der Prototyp erwies sich als standfest, aber es fehlte noch etwas, das an einem Produkt aus dem Kaufhaus niemals fehlen darf: das Etikett, mit dem Warnhinweis, dass der Yeti heißes Wasser schlecht verträgt. Man beauftragte Bucher, ein solches care tag zu entwerfen – und er reichte ein zwanzigseitiges Heftchen ein, ein emotional care tag mit Ratschlägen für die schonende Behandlung der sensiblen Künstlernatur unter dem struppigen Pelz.

Beim Monster-Projekt hatte Bucher die Besucher seiner Internetseite eingeladen, sich Geschichten zu den Figuren auszudenken. Diesmal übernahm er das Ausfabulieren selbst. In den Sitzungen wollten die Saks-Manager immer mehr über den Yeti wissen: Was macht er im Sommer? Warum trägt er keine Schuhe? Mit solchen Fragen kannte Bucher sich aus. Als Schüler hatte er zu den Donaldisten gefunden, die auf der Grundlage der Comics des amerikanischen Zeichners Carl Barks beispielsweise debattieren, warum nur die weiblichen Ducks Schuhe tragen. „Der Donaldismus war mein Proto-Internet, verschaffte mir Aufgaben und Kontakte.“

Irgendwann kam das Signal aus der Chefetage: Bucher sollte ein Buch aus der Yeti-Geschichte machen. „The Yeti Story“ erschien im Jahr 2012, ein „Kinderbuch für Erwachsene“, wie der Autor sagt, der die Geschichte in Versen abfasste: eine Ballade von der künstlerischen Freiheit. Wir erfahren, dass der Schneemensch ursprünglich Yetikovski hieß und ein Einwanderungsbeamter auf Ellis Island den Namen verkürzte. Bucher hat vor vier Jahren die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen.

Design als Sorgfalt im Einzelnen, die alles ändert

Das Buch ist in schneeweißen flauschigen Stoff eingebunden. Am besten gefällt Bucher an seinem Werk ein unscheinbares Detail nicht des Buches, sondern des Schubers: zwei kleine Klappen mit dem Vermerk, dass zur Herstellung des Umschlags kein echtes Yeti-Fell verwendet wurde. Design ist für Bucher, den Erfinder des Schneeflockengestalters Yetikovski, eine Sorgfalt im Einzelnen, die alles ändert: „Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Kind solche Sachen gesehen habe, die mich richtig mitgerissen haben, weil dir jemand eine komplett andere Sichtweise der Welt damit vermittelt. Moment mal: Da ist also in der Welt irgendetwas versteckt- es gibt Leute, die sich auch um so etwas kümmern.“

Die Saks-Kampagne des Advents 2013 ist eine liebevoll detailgenaue Bebilderung der „Yeti Story“ im Medium des Dioramas, dessen Meisterwerke man im American Museum of Natural History an der Westseite des Central Park bewundern kann. Bucher, der sein Urheberrecht an Saks verkauft hat, erfuhr vom Schaufensterprogramm aus einer Pressemitteilung. „Wenn sie mich eingebunden hätten, wären mir wahrscheinlich noch hundert neue Details eingefallen.“

In den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat er seine Geschichte angesiedelt, weil er glaubt, dass diese Zeit eine Zäsur in der Sozialgeschichte der Kunst markiert. Dank der Arbeitsteilung in den Massenmedien konnten sich die Künstler vom Geschmack einzelner Mäzene emanzipieren. Die Monotonie der sibirischen Schneefabrik, der der Yeti entkommt, erinnert Bucher an den Konformitätsdruck seiner eigenen Schulzeit in einer niedersächsischen Kleinstadt, der dabei mehr von den Schülern als von den Lehrern ausgegangen sei. „Die Idee der kindlichen Kreativität halte ich für eine Illusion. Dieselben zehn Prozent haben als Kinder und als Erwachsene Spaß an der Kunst.“

Stefan Bucher hat sich einen Doppelgänger erschaffen und ist nicht unglücklich darüber, dass er ihm nicht mehr gehört. „Für einen Comicbook-Zeichner kommt auch irgendwann der Punkt, da ihm sein Held aus der Hand genommen wird.“ Das Bleibende in der Kunst? Schnee von gestern.