Gesellschaft

Nicht jeder hat Verständnis

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Etwa zwei Drittel aller HIV-Infizierten arbeiten. Dabei eingeschränkt sind nur wenige, aber fast alle beschäftigt die Frage: Soll man es dem Chef und den Kollegen sagen oder nicht?

Ob sie ihm noch die Hand geben würden? Ihm auf die Schulter klopfen, wenn sie ihn loben? Oder würde es Leroy wie dem Bäcker ergehen, von dem er gelesen hatte und dem der Chef sagte: Du arbeitest jetzt nur noch mit Handschuhen. Oder der Marktfrau, der bald gekündigt wurde mit der Begründung: Das können wir unseren Kunden nicht zumuten. An sie alle dachte Leroy, 24 Jahre alt, eine Woche nachdem er von seiner HIV-Infektion erfahren hatte – und dachte doch eigentlich nur an sich. Leroy beschloss, es seinem Chef zu sagen, egal, wie die Sache ausgehen mochte. Es war ihm einfach zu wichtig.

Leroy ist ein direkter junger Mann, der meistens ausspricht, was er denkt. Er geht offen mit seiner Krankheit um, sein Nachname soll trotzdem nicht in der Zeitung stehen. Mit seinem Vorgesetzten ist er schon länger per Du. Eines Morgens ging er in dessen Büro und sagte: „Ich habe HIV.“ Der Chef war überrumpelt, dann bestürzt. Und meinte schließlich: „Es gibt wohl keine angenehmere Art und Weise, das zu formulieren.“ Leroys Chef freute sich über das Vertrauen seines Auszubildenden. Bald setzten sie sich noch einmal in Ruhe zusammen und besprachen vieles. In Leroys Augen stellte er genau die richtigen Fragen: Wie geht es dir? Kann ich etwas für dich tun? Vielleicht fiel es dem Vorgesetzten wegen seines Postens leichter, mit der neuen Situation umzugehen. Er leitet eine Zweigstelle des Roten Kreuzes in Südhessen, hat also oft mit schwierigen Lebenslagen und kranken Menschen zu tun. Oder Leroy hatte schlicht Glück.

Keine Informationspflicht beim Arbeitgeber

Denn dieses Geständnis kann auch ein Karriereknick sein für die 51000 Menschen, die HIV-positiv und berufstätig sind, was etwa zwei Dritteln aller Erkrankten entspricht. Aids-Aktivisten der ersten Stunde werben dafür, dass überall, also auch am Arbeitsplatz, offener über das Thema gesprochen wird. Viele Arbeitsrechtler warnen aber: Wer erzählt, dass er mit HIV infiziert ist, muss noch immer oft mit der Kündigung rechnen.

Dass die nicht rechtens ist, steht außer Frage. Denn juristisch ist die Sache eindeutig: Der Arbeitnehmer muss seinem Arbeitgeber nichts von der Diagnose sagen- wenn er etwa im Vorstellungsgespräch konkret danach gefragt wird, darf er sogar lügen, wie auch Frauen bei der Frage, ob sie schwanger seien. Im Falle von HIV gibt es aber zwei Ausnahmen: Der Mitarbeiter muss es seinem Vorgesetzten erstens dann sagen, wenn er durch die Erkrankung in der Ausübung seines Berufs eingeschränkt ist. Etwa wenn er sich als Busfahrer bewirbt, aber Medikamente nehmen muss, die ihn müde machen.

„Ich fühle mich nicht krank.“

Und zweitens dann, wenn eine erhöhte Ansteckungsgefahr besteht, zum Beispiel bei einigen chirurgischen Tätigkeiten, weil da an offenen Wunden hantiert wird. Aber in der Gastronomie, der Kinderbetreuung oder Altenpflege können HIV-Positive ganz normal weiterarbeiten. Denn eine Übertragung ist in der Regel extrem unwahrscheinlich, kann das Virus doch nur durch den Kontakt von einigen Körperflüssigkeiten wie Blut und Sperma überspringen. Eigentlich ist das ganz einfach zu verstehen. Nur wissen viele Menschen auch nach Jahrzehnten der Aufklärungskampagnen noch immer viel zu wenig über HIV.

So entsteht eine diffuse Angst, die auch Leroy nur zu gut kennt, er hatte sie früher ja selbst. HIV war nie ein Thema für ihn. Bis er mit einem Mann schlief, den er erst kurz kannte, nach einer Party, angetrunken und ohne Kondom. Wegen einer Darmoperation kam Leroy bald darauf ins Krankenhaus, nach dem Eingriff bekam er 42Grad Fieber, eine ganze Woche lang. Erst rätselte der Oberarzt, dann schlug er Leroy einen HIV-Test vor. Positiv. Was danach kam, beschreibt Leroy im Rückblick als Verzweiflung, Angst und Depression. Heute, erst vier Monate später, lacht er wieder und sagt: „Ich fühle mich nicht krank.“

Kündigung wegen HIV nicht rechtens

HIV ist inzwischen eine chronische Krankheit, die sich mit Medikamenten über viele Jahre meistens gut handhaben lässt. Leroy muss täglich sieben Tabletten nehmen. Durch diese antiretrovirale Therapie liegt die Viruslast in seinem Blut unter der Nachweisgrenze, er gilt damit als nicht infektiös. Er fühle sich gut.

Das kann, wird wahrscheinlich auch einmal anders sein. HIV-Patienten erleben ein Auf und Ab. Wird zum Beispiel ihre Therapie neu eingestellt, leiden sie oft unter starken Nebenwirkungen und können nicht arbeiten. Weiß der Vorgesetzte dann nichts von der Erkrankung, hält er seinen Mitarbeiter im harmlosesten Fall für kränklich, im schlimmsten Fall für einen Simulanten, weil der seine Fehlzeiten nicht befriedigend erklären kann. Nur dann wäre eine Entlassung rechtens – nicht wegen der HIV-Diagnose, sondern auf Grundlage der Regeln einer krankheitsbedingten Kündigung.

Das mögen wichtige, aber für viele Menschen mit HIV eher theoretische Überlegungen sein. Die Wahrheit ist immer konkret. Also: Würden Leroys Kollegen ihm noch die Hand geben, wenn sie es wüssten? Sie taten es. Er hat es nicht allen erzählt, nur denen, mit denen er sich besonders gut versteht.

Sein „zweites“ Outing

Dazu riet ihm auch die Aids-Beratungsstelle, die er seit vier Monaten besucht. Die Erfahrungen der Mitarbeiter dort lehren, dass viele Patienten unterschätzen, welche Konsequenzen ihre Offenheit unter Umständen haben kann. Denn wer es anderen erzählt, gibt die Kontrolle darüber ab, wie die Eingeweihten mit der Information umgehen. Grundsätzliche Empfehlungen gibt man bei der Aids-Beratungsstelle deswegen nicht.

Kein Lästern, keine dummen Sprüche – Leroy erging es gut mit seinem „zweiten Outing“, wie er es nennt. So war es auch, als er – beim „ersten Outing“ – erzählte, dass er Männer mag. Ob es ihm auch so gegangen wäre, würde er nicht beim Roten Kreuz eine Ausbildung zum Bürokaufmann machen, sondern eine zum Kfz-Mechatroniker in einer kleinen Autowerkstatt? Womöglich nicht, glaubt Leroy. Und sein Chef hätte angesichts möglicher Krankentage vermutlich auch nicht so entspannt reagiert, würde er einen kleinen Handwerksbetrieb leiten und wäre er auf jeden Mitarbeiter täglich angewiesen. „Da muss man auch die Arbeitgeber verstehen, sosehr ich mir mehr Verständnis für HIV wünsche“, sagt Leroy.

Trotz allen Verständnisses – seine Ausbildungsstelle hat Leroy nun trotzdem verloren. Wegen einer Darmkrankheit musste er mehrere Monate in Kur. Sein Chef hatte damit kein Problem, aber die Industrie- und Handelskammer. Weil er zu lange in der Berufsschule fehlte, lässt die ihn nicht mehr zur Abschlussprüfung zu. Der junge Mann nimmt es mit Fassung. Er müsse sein Leben mit HIV sowieso neu ordnen – beruflich wie privat.