Gesellschaft

„Ich frage oft, wie Dinge aussehen“

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Joana Zimmer kann nicht sehen. Freiheit ist für sie, wenn sie weiß, wo etwas ist. Manchmal vergisst die Sängerin, dass sie blind ist: früh hat sie begonnen, das Handicap mit anderen Stärken auszugleichen.

Frau Zimmer, Sie haben eine Autobiographie geschrieben, in der Sie nicht verschweigen, dass Sie „nicht sehen“ können. Vom Blind-Sein handelt sie allerdings selten.

Das Wort „blind“ hat für mich etwas mit Dunkelheit zu tun. Aber ich nehme Helligkeiten wahr. Ich sehe nur nicht, deswegen habe ich versucht, es ein wenig eleganter zu sagen.

Was wissen Sie über Ihre Blindheit?

Es ist eine Form des Sehnervschwunds. Das bedeutet, ich sehe noch hell und dunkel aber nicht mehr. Da der Sehnerv direkt mit der Information des Gehirns verbunden ist, gibt es noch keine Heilung.

Das Sehen oder das Sichtbare hat für Sie trotzdem große Bedeutung. Sie verlangen Hotelzimmer mit Aussicht, Sie achten darauf, schöne Uhren zu tragen, Sie haben eine Lieblingsfarbe, und Sie mögen es, wenn Gesprächspartner Ihnen in die Augen sehen.

Mir ist es wichtig zu wissen, wie Dinge aussehen. Also lasse ich sie mir beschreiben. Ich habe schon als Kind häufig gefragt, wie mein Gesicht aussieht, wenn ich so oder so schaue. Viele Menschen, die auch nicht sehen können, teilen dieses Interesse nicht. Ich will wissen, wie etwas aussieht, und ich habe Bilder im Kopf, die ich umsetzen möchte. Gerade auf der Bühne geht es mir auch darum, visuell zu erzählen.

Sie treffen vor allem ästhetische Entscheidungen. Dass Ihre Uhr pink ist beispielsweise. Sie müssen dafür einigen Menschen besonders vertrauen.

Damit die Uhr nicht plötzlich grün ist?

Das wäre lustig. Aber bei ästhetischen Fragen geht es ja tatsächlich um Nuancen.

Ich habe das Glück, dass ich Menschen um mich habe, die Dinge so sehen, wie ich sie sehen würde. Die spüren, was mir wichtig ist und sagen mir: „Das ist dein Pink.“

Können Sie sich daran erinnern, wie sie begriffen haben, dass Sie sich die Welt anders verbildlichen oder vorstellen müssen als andere Kinder. Sie waren das einzige nicht sehende Kind in Ihrem Kindergarten.

Ich habe gemerkt, dass ich andere Stärken habe und haben musste. Ich bin aber trotzdem auch durch die Gegend gelaufen und auf Bäume geklettert. Meine Eltern haben mir alle Freiheiten gewährt. Ich saß nicht herum, weil sie Angst hatten – eher umgekehrt. Ich kann mich aber an kein Schlüsselerlebnis erinnern, es gab allerdings auch keinen Schockmoment. Ich habe früh bemerkt, dass ich für manche Dinge mehr Energie brauche und andere nicht einfach nebenbei machen kann. Ich habe heute einen Alltag, der anders ist, als der vieler Menschen. Jeder Tag ist anders und woanders, dafür muss ich mich sehr disziplinieren. Da merke ich dann, dass ich nicht sehen kann. An normalen Tagen merke ich es dagegen gar nicht.

Zu Ihrem ersten Vorstellungsgespräch bei einer großen Plattenfirma vergaßen Sie im Vorfeld zu sagen, dass Sie nicht sehen können.

Ja, das war keine Absicht. Ich hatte es tatsächlich vergessen.

Sie gleichen das Nicht-Sehen-Können aus, mit anderen Sinnen aber auch mit „Willensstärke, Durchhaltevermögen und Mut“. Das klingt, als sei es eine Sache bewussten Übens.

Es ist eine Sache des Charakters und der Erziehung. Ich habe diesen Ausgleich bewusst gesucht. Es ist zum einen eine natürliche Reaktion, dass sich Sinne gegenseitig ergänzen. Zum anderen habe ich sehr früh die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, nicht sehen zu können. Auf dem Internat hatte man uns gesagt, „nur 15 Prozent alle Menschen mit Behinderungen haben Arbeit“. Es ist ja ohnehin schwer, einmal das zu machen, was man gerne möchte. Ich habe früh erkannt, dass ich mich auf meinem Talent nicht ausruhen kann, sondern wirklich überzeugen muss.

Sie hatten eine glückliche Kindheit. Die Geborgenheit, die Sie erfahren haben und die Bedeutung, die das Gefühl des Behütetseins für Ihr Leben haben, beschreiben Sie in Ihrem Buch. Sie schreiben aber auch davon, dass Sie häufig umgezogen sind, dass sich Ihre Eltern trennten, als Sie vier Jahre alt waren. Sie schreiben davon, wie Ihr Stiefvater, der Jazzmusiker Jay, starb. Sie lebten in einer Pflegefamilie und im Internat.

Das Schreiben des Buches hat mich emotional sehr mitgenommen. Ich hatte zuvor wenig öffentlich über mein Privatleben gesprochen. Nun habe ich mein Leben so beschrieben, wie ich es empfinde. Es war beispielsweise vor dreißig Jahren revolutionär, dass Väter ihre Kinder vor sich gebunden trugen und sie in die Universität mitnahmen. Bei mir war das normal. Traurige Momente gab es natürlich auch. Heimweh in der Pflegefamilie oder im Internat. Diese Momente waren aber auch lehrreich. Ich habe früh gelernt, auch Menschen außerhalb meiner Familie um Rat zu fragen und ihnen zu vertrauen. Meine Kindheit war schön, aber ungewöhnlich. Ich habe mir früh das Ziel gesetzt, so selbständig wie möglich zu leben. Zu einer behüteten Kindheit gehört nicht, nie aus der Bahn geworfen zu werden, sondern den Weg aufgezeigt zu bekommen, das Positive zu finden.

Sie haben gelernt, dass man nicht nur in der Familie glücklich werden kann. Das widerspricht einigen heute gängigen Ansichten.

Das tut es. Heute werden sehr häufig pauschale Rückschlüsse auf Kindheitserlebnisse gezogen. Dabei ist es großartig, wenn man überall Wege findet und Chancen nutzt, den eigenen Horizont zu erweitern. Ich empfinde es als großes Glück, nicht nur in dem einen Muster aufgewachsen zu sein. Ich glaube, das war für mich richtig. Ich mache meinen Eltern keine Vorhaltungen, dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Ich habe das auch mit meiner Mutter diskutiert. Sie hatte Sorgen, dass, wenn ich über verschiedene Stiefväter schreibe, ein schlechtes Licht auf sie geworfen wird. Aber letztlich zeigen Biographien, wie man Wege findet.

Trotz Ihrer erlernten Disziplin werden Sie manchmal von Ihrer Emotionalität überwältigt. Sie haben dafür eine „Diät des Verstandes“ entwickelt. Was ist das?

Mir ist früh aufgefallen, dass mich das Leid anderer sehr betroffen macht und das es mir schwerfällt, mich abzugrenzen. Diese hohe Sensibilität, dass hatte ich später gelesen, ist im Grunde eine normale Sache. Ich musste lernen, damit umzugehen. Ich kann heute Dinge verstehen, ohne mich emotional von ihnen mitreißen zu lassen. Ich gehe sparsam mit Gefühlen um und versuche, analytische Perspektiven einzunehmen.

Eine Ihrer Kindheitserfahrung lautet auch: Sie sind dann frei, wenn sie sich einer rigiden Ordnung unterwerfen.

Ich habe das noch nie als Widerspruch gesehen. Freiheit ist für mich, wenn ich weiß, wo etwas ist. Ich verbrauche recht wenig Energie für leicht vermeidbare Tätigkeiten. Natürlich kenne ich auch die Freiheit, etwas ungeplant einfach zu tun. Aber im Alltag bin ich frei, wenn eine Struktur da ist. Das erkennen andere nicht auf den ersten Blick, aber es ist die größte Freiheit.

Das haben Sie vor allem im Internat gelernt.

Ja. Zu Hause wurde ich nicht zur Ordnung gezwungen, also beherrschte ich sie auch nicht. Im Internat habe ich begriffen, was ich tatsächlich alles bewältigen konnte. Ich habe gelernt, Verantwortung für mich zu übernehmen, bevor ich das Alter erreichte, ab dem ich sie übernehmen musste.

Heute helfen Ihnen im Alltag auch Louis Braille und Steve Jobs.

Louis Braille entwickelte 1925 mit nur sechzehn Jahren die Punktschrift. Damit hatte er als erster Mensch Blinden die Möglichkeiten geben, sich zu bilden und eine Schule zu besuchen. Das war bahnbrechend. Das Schriftsystem wurde bis heute von nichts übertroffen. Durch die Computertechnologie haben sich die Dinge nun noch mal vereinfacht. Steve Jobs hatte für die Entwicklung des iPhones entschieden, ein Gerät zu entwickeln, das allen Menschen zugänglich ist. Er hat die Sprachausgabe integriert, ohne, wie es andere Unternehmen taten, dafür extra Geld zu verlangen, für das man Unterstützung der Krankenkassen brauchte. Durch ihn bekam ich nicht nur ein cooles Gerät, sondern auch das, welches alle anderen auch hatten. Wenn ich zu Lesungen fahre, habe ich mein riesiges, fast drei Kilo schweres Buch mit mir. Durch das Telefon kann ich nun so leicht wie möglich reisen.

Wenn Sie auf der Bühne sind, bewegen Sie sich gänzlich frei?

Ja, ich habe auf dem Boden Markierungen, die mir zeigen, wo ich bin und ob ich gerade ins Publikum schaue.

Sie tragen wie jeder Sänger heute die In-Ear-Hörer, die Ihnen die Ohren vollständig schließen. Schottet Sie das nicht zu sehr ab?

Ja, die Ohrhörer machen einen fast taub. Aber ich mag sie sehr, ich kann mit ihnen sehr präzise sein. Der Ton lässt sich aber mischen. Ich kann die Halle hören, wenn ich das will. Mir kann sogar jemand aufs Ohr sprechen, das nutze ich aber selten. Manchmal nehme ich die Hörer auch raus, um mehr vom Raum mitzubekommen.

Sie wollten als Kind Schauspielerin oder Sängerin werden. Hat Ihre Stimme diese Entscheidung für Sie getroffen?

Ja, ich hatte mich an meinem ersten Tag im Internat mit diesen Wünschen vorgestellt. Mit zwölf Jahren stand ich auf der Bühne, als Statist. Mit dreizehn gehörte ich einem Kabarett an, wir rezitierten, sangen und spielten. Das sind für mich bis heute untrennbare Elemente. Wenn ich ein Lied singe, ist es ein eigenes kleines Stück. Wenn ich über verlorene Liebe singe, dann bin ich für diesen Moment in dieser Welt. Es ist aber nicht meine eigene Trauer, das Spiel gehört dazu.

Joana Zimmer: „Blind Date“. Kösel Verlag, München 2013, 17,99 Euro.

Die Fragen stellte Stefan Schulz.