Gesellschaft

Die Deutschen nehmen mehr Antidepressiva

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Einem Bericht zufolge nehmen Menschen in wohlhabenden Industrieländern immer mehr Antidepressiva. Dabei sollten bei leichten Depressionen Psychotherapien klar den Arzneimitteln vorgezogen werden.

Menschen in wohlhabenden Industrieländern nehmen immer mehr Antidepressiva, heißt es im neuen Gesundheitsreport der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Autoren der Studie, die am Donnerstag in London veröffentlicht wurde, schließen nicht aus, dass die Wirtschaftskrise in Ländern wie Spanien oder Portugal ursächlich ist. In den beiden Ländern stieg der Konsum von Antidepressiva zwischen 2007 und 2011 um 20 und 23 Prozent. Die Fachleute der OECD merken aber an, dass diese Erklärung nicht ausreicht, um den noch schnelleren Anstieg in Deutschland zu begründen, das weniger von Arbeitslosigkeit betroffen ist: Hier stieg der Gebrauch von Antidepressiva zwischen 2007 und 2011 um 46 Prozent.

In dem Bericht heißt es weiter, dass die Einnahme von Antidepressiva in den meisten OECD-Ländern seit dem Jahr 2000 merklich gestiegen ist. Island verzeichnet den höchsten Stand im Jahr 2011, vor Australien, Kanada, Dänemark und Schweden. Korea, Chile, Estland und Ungarn stehen am unteren Ende der Tabelle. Gemessen wurde die definierte Tagesdosis der Medikamente je tausend Einwohner (siehe Grafik). Sie liegt in Island bei etwa 100 (im Jahr 2000 waren es nur 70), in Korea bei 13.In Island bekommen nach Angaben der Studie beispielsweise fast 30 Prozent aller Frauen im Alter von 65 Jahren oder darüber ein Antidepressivum verschrieben. Eine längere Dauer und eine größere Intensität bei der Verwendung von Antidepressiva seien eine mögliche Erklärung. Zudem sei denkbar, dass inzwischen schon bei milderen Formen von Depression oder auch bei Angststörungen und sozialen Phobien Arzneimittel eingesetzt werden. „Diese Erweiterungen lenken Aufmerksamkeit auf die Frage, ob das angemessen ist“, heißt es in dem Bericht neutral.

„Der Anstieg hat möglicherweise mit der Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen in Deutschland zu tun“, sagt Christine Kühner vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Die Bereitschaft, Hilfe zu suchen, steigt bei den Betroffenen.“ Die Diplom-Psychologin war an der Erarbeitung der Nationalen Versorgungsleitlinie für Unipolare Depressionen beteiligt. „Darin wird klar gesagt, dass Antidepressiva zur Erstbehandlung leichter Depressionen nicht generell eingesetzt werden sollten, und dass Psychotherapie auch bei mittelschweren bis schweren Episoden gleichwertig zu einer medikamentösen Behandlung angeboten werden kann.“

Auch stationäre Aufnahmen steigen an

Hinter dem Anstieg des Gebrauchs von Antidepressiva könnte ein Missverhältnis zwischen der wachsenden Zahl der Hilfesuchenden und den Psychotherapie-Angeboten in Deutschland stehen: „Die Entstigmatisierung schreitet auf der einen Seite voran, auf der anderen gibt es ein Defizit in der psychotherapeutischen Versorgung.“ Um den Betroffenen Hilfe anbieten zu können, wird dann auf Antidepressiva zurückgegriffen.

Auch die stationären Aufnahmen bei Depressionen und Angststörungen seien in der Vergangenheit gestiegen, sagt Kühner. Ein Report der Barmer GEK ergab beispielsweise unlängst, dass im Jahr 2000 nur einer von 1000 Versicherten wegen Depressionen stationär ins Krankenhaus aufgenommen wurde. Zehn Jahre später waren es schon 2,3 von 1000 Versicherten. „Das kann man auch damit erklären, dass zu wenig ambulante Angebote vorhanden sind“, meint Kühner.

Insgesamt werden psychische Störungen in Deutschland nicht häufiger. Das belegen regelmäßige bevölkerungsbasierte Langzeitstudien, die im Abstand von mehreren Jahren wiederholt werden, etwa der im Jahr 2011 ausgeführte Deutsche Gesundheits-Survey des Robert-Koch-Instituts.