Medizin

Wenn dicken Kindern nichts mehr hilft

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Diäten und Trainingsprogramme versagen oft bei übergewichtigen Kindern. In Extremfällen entscheiden sich Ärzte schon zum chirurgischen Eingriff – eine umstrittene Maßnahme.

Kinderchirurgen aus dem Prinz Sultan Militärhospital in Riad haben unlängst bei einem zweieinhalbjährigen Kind aus Saudi-Arabien mittels Operation den Magen verkleinert, um sein Übergewicht zu verringern. Der Junge wog mit achtzehn Monaten rund dreißig Kilogramm, jedwede Versuche, das Gewicht auf andere Art und Weise zu reduzieren, scheiterten, heißt es in der Online-Publikation zu dem Fall („International Journal of Surgery Case Report“, doi: 10.1016/j.ijscr.2013.07.033). Zuvor ist zwar noch nie über einen derartigen Eingriff bei einem so kleinen Kind berichtet worden, aber es gibt bereits mehrere Operationsserien, bei denen es um Kinder im Vorschulalter ging. Systematische Erfassungen darüber, wie viele Kinder wegen krankhaften Übergewichts ein Magenband, eine Verkleinerung oder Umgehung von Magen und Darmabschnitten erhielten, sind jedoch erst angelaufen. Auf dem Weltkongress der Kinderchirurgen unlängst in Berlin war das Thema auf der Agenda, gilt es doch, viele Missverständnisse auszuräumen. Das zeigen nicht zuletzt die aktuellen kritischen Reaktionen auf die Präsentationen in Berlin. So sprach sich dort Philipp Szavay, Chefarzt der Kinderchirurgie am Kantonsspital Luzern in der Schweiz und Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH), dafür aus, bei Kindern, die mehr als hundert Kilogramm wiegen, eine solche Operation in Erwägung zu ziehen. Fast reflexartig warnte daraufhin der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in einer Pressemitteilung davor, „radikale Operationen als Lösung . . . zu propagieren“.

Diese Reaktion steht beispielhaft für eine vorauseilende Kritik an den Eingriffen, die die Chirurgen eigentlich nur als Teil eines multidisziplinären Therapiekonzeptes sehen. Szavay betont auf Nachfrage ganz ausdrücklich, dass ein wie immer gearteter gewichtsreduzierender Eingriff nur im Kontext eines umfassenden Programms eines Kompetenzzentrums erfolgen dürfe: „Dies bedeutet, dass hierzu ein Netzwerk aus Kinderärzten, Psychologen, Kinderchirurgen, Ernährungsberatern, Sozialarbeitern und Physiotherapeuten eingebunden sein muss.“ So wie sich auch die Adipositas-Chirurgie bei Erwachsenen immer wieder gegen den Vorwurf wehren muss, man suche die „schnelle Lösung mit dem Messer“, statt auf nachhaltige Lifestyle-Veränderung zu setzen, müssen sich umso mehr diejenigen rechtfertigen, die diese Eingriffe schon bei Kindern vornehmen. Dabei wird die Operation überhaupt erst sehr spät in Erwägung gezogen. Es gebe derzeit keine Leitlinie, die dringend notwendig wäre, so Szavay. Aber es gebe Anhaltspunkte, die man von den Erwachsenen abgeleitet hat: „Ab einem Body-Mass-Index von 35 kg/m² und einer weiteren Erkrankung wie Diabetes Typ 2 oder einem Body-Mass-Index von 45 kg/m² sollte eine Operation indiziert sein.“ Das hieße, dass bei einem Kind von 1,50 Meter Größe, das mehr als neunzig Kilogramm wiegt, ein solcher Eingriff in Betracht kommen könnte.

In Amerika wird mehr operiert

So sehen keine vorschnellen Lösungen aus. Auch die bisherigen Operationszahlen deuten nicht auf einen Boom hin. „In der Erwachsenen-Chirurgie wurden in Deutschland von 2005 bis 2012 etwa 22 000 bariatrische-chirurgische Operationen vorgenommen, schätzungsweise etwa fünf bis elf Prozent davon an Jugendlichen“, erklärt der Experte den aktuellen Stand. In Deutschland gelten fünfzehn Prozent aller Kinder zwischen drei und siebzehn Jahren als übergewichtig, insgesamt 800 000 sind bereits fettleibig oder adipös, haben also einen Body-Mass-Index von mehr als 30 kg/m². Erhebungen aus den Vereinigten Staaten zeigen, dass dort infolge der grassierenden Kinderadipositas die Zahlen deutlich höher sind. Dort wurden seit dem Jahr 2000 mit wachsender Tendenz rund 10 000 Patienten allein im Kindes- und Jugendalter operiert.

Ein wichtiger Punkt, auf den die Kritiker stets hinweisen, ist die Notwendigkeit, nach der Bildung eines Schlauchmagens Vitamine und Spurenelemente zu ersetzen, da die Operation einen Teil des Darmes kurzschließt, der für die Aufnahme solcher Substanzen zuständig ist. Aus dieser Notwendigkeit ergibt sich ein bedeutender Risikofaktor für die Patienten. Das redet Szavay auch keineswegs schön und räumt ein: „Aus manchen Studien geht hervor, dass weniger als ein Fünftel der operierten Jugendlichen nach der Operation die erforderliche Nahrungsergänzung an Proteinen und Vitaminen einnehmen.“ Wie gut es gelingt, die Patienten nach der Operation in einen Gesamtbehandlungsplan einzubinden, ist aber wiederum eine Frage des interdisziplinären Konzeptes und auch der Finanzierung der Nachsorge. Außerdem ist nicht die Operation per se an jedem Ernährungsdefizit schuld. So zeigt eine vor kurzem veröffentlichte Studie, dass bei der Mehrheit der untersuchten adipösen Jugendlichen bereits ein massiver Vitamin-D-Mangel bestand, bevor sie operiert wurden.

Wenig Komplikationen

Da es noch keine Langzeitergebnisse gibt, stützen sich die Informationen bei der Aufklärung auf eher kurzfristige Nachbeobachtungszeiten. Jüngste Daten für deutsche Verhältnisse stammen von der Universität Ulm, wo 345 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – 51 waren jünger als achtzehn Jahre – nachuntersucht wurden. Sie erhielten entweder ein Magenband, das den Mageneingang abschnürte, einen Magenbypass oder einen Schlauchmagen. Die Komplikationsraten waren wie bei Erwachsenen während und nach der Operation gering, die Gewichtsabnahmen betrugen je nach Eingriff zwischen 28 und 50 Kilogramm („International Journal of Obesity“ doi: 10.1038/ ijo.2013.182). Die Nachteile und Komplikationen eines Eingriffs gilt es abzuwägen gegen die ebenfalls bei fortbestehender Fettleibigkeit drohenden Erkrankungen. Das sind neben dem Diabetes vor allem der Bluthochdruck und die damit verbundenen Herz-Kreislauf-Risiken der jungen Patienten. Aus Studien bei Erwachsenen weiß man, dass die Patienten nach einem bariatrischen Eingriff länger leben als jene, die sich nicht haben operieren lassen.

Wenn auch noch nicht genügend Daten über die langfristigen Folgen eines solchen Eingriffs bei den jungen Patienten vorliegen, so gibt es immerhin vereinzelte Studien, die bereits über eine verblüffend nachhaltige und vorteilhafte Wirkung in die nächste Generation hinein berichten. Eine kürzlich in den „Proceedings“ der amerikanischen Nationalen Akademie der Wissenschaften erschienene Arbeit konnte zeigen, dass es in den metabolisch relevanten Genen positive DNA-Veränderungen bei den Nachkommen von jenen Müttern gibt, die wegen ihrer Adipositas operiert wurden.

Man wusste bereits, dass die Kinder von solchen Müttern gesünder sind als Kinder von Frauen, die ebenfalls übergewichtig waren, sich aber nicht einem bariatrischen Eingriff unterzogen hatten („PNAS“, Bd. 110, S. 11439). Solche Befunde sollten auch jene nachdenklich machen, die etwa bei übergewichtigen jungen Frauen mit Kinderwunsch den bariatrischen Eingriff immer nur als allerletzte Möglichkeit in Betracht ziehen und hinauszögern wollen. Denn die Verteidiger konservativer Lifestyle-Änderungen zur Therapie des Übergewichts müssen sich entgegenhalten lassen, dass all diese Ansätze bisher nahezu völlig versagt haben. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hielt erst 2012 unmissverständlich fest, dass Maßnahmen wie Diäten und Bewegungsprogramme bei Kindern und Jugendlichen auch langfristig keinen Erfolg zeitigen.