Gesellschaft

Laut, ordinär und geistig behindert

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Die Musiker der Punkband Pertti Kurikan Nimipäivät aus Finnland wollen keine Außenseiter sein. Damit sind sie erfolgreich – und doch alles andere als normal.

Der Bass dröhnt, der Sänger schaut wütend in die Menge und schiebt seinen Kiefer vor: „Yeah, ich hasse alle Politiker“, schreit er in den Saal. Noch bevor er den ersten Song beginnt, streckt er den Zeigefinger in die Luft und drückt ab, dann zielt er auf das Publikum. Die Menschen jubeln nicht, niemand klatscht. Die Zuschauer halten sich an ihren Bierflaschen fest und bleiben auf den Plastikstühlen sitzen. Der Bassist drischt auf die Trommeln, hart, schnell, dröhnend. Der Gitarrist steigt ein und rammt seine Akkorde. „Yeah“ brüllt der Sänger mit rauchiger Stimme. „Alle Politiker sind Verbrecher.“ Verhaltener Applaus, Digitalkameras werden gezückt, einzelne Blitzlichter flackern.

Für die finnische Punkband Pertti Kurikan Nimipäivät ist dieses Publikum der Albtraum. Es ist Samstagnacht in Jyväskylä, einer 133000-Einwohner-Stadt, drei Autostunden von der Hauptstadt Helsinki entfernt. Heute sind etwa 200 Menschen gekommen, um eine der bekanntesten Punkbands des Landes live zu erleben. Gitarrist Pertti Kurikka (56), Bassist Sami Helle (40), Drummer Toni Välitalo (31) und der Sänger Kari Aalto (37) sind laut, ordinär – und geistig behindert.

Kari Aalto rüttelt am Mikrofonständer, spricht nach jedem Song zum Publikum und erklärt, wie sehr er Politiker hasst. Meist redet er stockend, betont jedes einzelne Wort überdeutlich, was seiner Sprache einen eigenartigen Rhythmus verleiht. Nur wenn er singt, dann fließt seine Sprache. Er wirft seinen Oberkörper immer nach vorne, nach hinten, formt eine Faust und schlurft in seiner abgewetzten Jeans über die Bühne. „Sex Slave“ steht in roten Lettern auf seiner schwarzen Lederweste. Wütend brüllt er ins Publikum: „Nobody is looking at us!“

Immerhin stehen jetzt einige auf, nähern sich der Bühne und gehen im Takt mit. Das Thermometer draußen zeigt fünf Grad über null, die Kälte schafft es nicht nach innen in den Saal, wo es noch ausreichend Platz gibt. Schon zu Beginn des Konzerts ist klar: Dieser Abend wird nicht als Party des Jahrtausends in die Punkrock-Annalen eingehen.

Lebensgefühl voll Ärger und Trotz

Pertti Kurikan Nimipäivät ist keine Nischen-Band. „Wir sind keine Behinderten, die nur für Behinderte spielen“, sagt Bassist Sami Helle und popelt nebenbei. „Wir sind nicht anders, ihr macht uns zu Außenseitern. Wir wollen nicht am Rande der Gesellschaft stehen“, sagt der Bassist und gähnt sehr laut.

Tatsächlich kommen zu ihren Konzerten fast nur Menschen ohne Handicap. Die Band will ernst genommen werden, für ihre Musik und ihr Lebensgefühl, das voll ist von Ärger und Trotz. Wohlmeinende Sozialpädagogen, die jeden Song beklatschen, sind der Horror für sie, fast so eine Herausforderung wie das Publikum in Jyväskylä, das auch nach dem zweiten Song noch zurückhaltend bleibt. Das Publikum ist gemischt, fast alle Altersgruppen, nur Punks sind heute leider keine dabei. Stattdessen: ergraute Schnauzbartträger in Karo-Hemden, Jugendliche in tiefsitzenden Hip-Hop-Hosen und ältere Paare, die über der Weinkarte sitzen.

Dieses Publikum entspreche nicht ihrem Geschmack, meint Sami schon vor dem Auftritt, während er durch die Menge spaziert. Viel lieber spielen sie in dunklen Clubs, in denen Punks Pogo tanzen, schubsen, rempeln und stagediven. Die Band nimmt es gelassen: „Es ist ein Job, was soll’s“, sagt Sami kurz vor Konzertbeginn und zuckt mit den Schultern. „Wenn sie uns abfucken, gehen wir eben.“

Achtung, Respekt, Selbstverwirklichung

Nachdem Kari den dritten Song herausgeschrien hat, blickt er in die Menge: „Wir hier oben sind Menschen, wir möchten nicht nur in Heimen leben, wir wollen uns unsere Jobs aussuchen.“ Hinter ihm hält Schlagzeuger Toni seine Colaflasche in die Luft und grinst. „Yeah“, schreit der hagere Sänger, dessen Schultern nach unten hängen. „Jetzt kommt ‚Miks ei kukaan ymmärrä?‘‘ (Warum versteht mich niemand?) Der vierte Song handelt von der Pediküre, die Kari hasst und zu der er regelmäßig muss. „Sie kotzen mich an, wenn sie sich um meine Füße kümmern!“ Die Gitarre kreischt, der Bass kracht, Kari steckt sich den Finger in den Hals. Der Sound wird schneller, wilder, und langsam müsste das Publikum ausflippen. Aber das tun sie noch nicht, immerhin stehen immer mehr vor der Bühne und jubeln.

Es geht um Achtung, Respekt, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung. Das System ist ihr Feind. Bei ihren Konzerten fordern sie deshalb immer wieder Gleichberechtigung. Ihre Texte sind nicht besonders kompliziert, sie sind direkt, anklagend, ordinär. Typisch Punk eben. „Sä et oo normaali“ („Du bist nicht normal“) und „Läski-Kari“ („Fetter Kari“) heißen zwei ihrer Lieder. Toni streckt die kreisende Zunge heraus und grinst mit seinem weichen Kindergesicht. Auf dem T-Shirt steht „Perkele!“ – „Verdammt!“

Neben der Bühne steht Kalle Pajaama, die Arme verschränkt. Der Vierunddreißigjährige ist Gründer und Manager von Pertti Kurikan Nimipäivät. Er leitet Musik-Workshops für Menschen mit Behinderung. Bei einem dieser Seminare kam ihm und Pertti 2009 die Idee, eine Band zu gründen. Als die Musiker gefunden waren, suchten sie ihren Stil. Denn privat hören sie alle unterschiedliche Sounds, Sami liebt Jazz, Toni Pop, Kari Rock. Nachdem sie vieles ausprobiert hatten, stand der Entschluss fest: Punk sei am besten, ihre Wünsche zu vermitteln. „Es ist normal, anders zu sein“, sagt Sami. Dann rülpst er. Weil ihnen der Klang so gefiel, entschieden sie sich für den Namen Pertti Kurikan Nimipäivät – Pertti Kurikkas Namenstag. Die Band singt auf Finnisch mit englischen Satzfetzen. Die Texte schreibt der introvertierte Pertti, erst mit der Hand, dann tippt er sie mit der Schreibmaschine ab. Im Behinderten-Wohnheim haben sie einen Proberaum. Fast jede Woche treten sie irgendwo auf: Gerade sind sie aus London und Amsterdam zurück. Sie haben aber auch schon in Kanada und auf der Hamburger Reeperbahn gespielt.

„Dürfen Behinderte nur dem Klischee entsprechen?“

Ihre Vorbilder sind vor allem heimische Punkbands wie die Ypö-Viis und Kakka-Hätä 77. Kalle erinnert sich noch gut an ihr erstes eigenes Konzert und die Unsicherheit vor dem Gang auf die Bühne: Würde das Publikum die Band akzeptieren? Wie würde das Zusammenspiel live funktionieren? Sie wurden fast überrollt von ihrem Erfolg.

Die vier Musiker sind die Schützlinge des Managers. Er fragt sie, ob sie geduscht haben, ob sie Hunger haben, ob sie sich wohl fühlen. Wenn sie sich streiten, ist er der Mediator. Kalle versteht sich nicht als mobiler Sozialarbeiter. Die Band, das sind auch seine Freunde. Er denkt an ihre Geburtstage, und als er und seine Frau ihr erstes Kind bekamen, besuchte die Band sie im Krankenhaus. Wenn einer von ihnen wissen will, wie man Kinder zeugt, schenkt Kalle ihm einen Softporno.

Macht er sich denn keine Sorgen, dass die Band auch deshalb so bekannt ist, weil sie als Freaks gelten könnten? Da fragt er: „Was ist die Alternative? Dürfen behinderte Menschen nur dem Klischee entsprechen, das die Mehrheit von ihnen hat, nämlich in Werkstätten arbeiten und Weihnachtsgeschenke basteln?“

Die vielleicht bravsten Punks der Welt

Es ist nicht die einzige Band, deren Mitglieder eine geistige Behinderung haben, in Europa jedoch wohl die erfolgreichste. In Deutschland gibt es Station 17, eine Hamburger Combo mit Behinderten und Nichtbehinderten. Trotz prominenter Unterstützung durch Fettes Brot oder Guildo Horn und mehreren Alben kam die Band kaum aus ihrer Nische.

Pertti Kurikan Nimipäivät veröffentlichten 2010 ihre ersten beiden EPs, die rasch ausverkauft waren. Es folgte die erfolgreiche CD „Kuus kuppia kahvia ja yks kokis“ („Sechs Tassen Kaffee und Cola“). Spätestens nach dem mehrfach prämierten Dokumentarfilm „The Punk Syndrome“, der die Band porträtiert, kannte auch der Rest des Landes den Brachial-Sound. Mittlerweile sind sie alle hauptberuflich Musiker, im nächsten Jahr erscheint das zweite Album.

Ist es anstrengend, eine Band mit gehandikapten Musikern zu managen? Kalle antwortet mit einer Gegenfrage: „Soll das ein Witz sein? Mit ihnen ist es bestimmt leichter als mit Musikern ohne Behinderung. Die Jungs trinken kaum Alkohol, und Lampenfieber kennen sie überhaupt nicht.“ Tatsächlich werden bei ihren Auftritten keine Gitarren zertrümmert oder Flaschen durch die Luft geworfen. Sie sind zwar wild, aber vor allem in ihren Texten und Gesten. Auf der Fahrt zum Gig nach Jyväskylä und zurück schnallen sie sich alle an, hören Musik mit Kopfhörern oder telefonieren mit ihren Freundinnen oder Eltern. Kein Rausch, keine Groupies. Es wird eine Tüte mit Sonnenblumenkernen herumgereicht. Vielleicht sind sie die bravsten Punks der Welt.

Bam-bam-bam-bam

Bürgerlich solide ist auch ihr Alltag. Toni, der Jüngste, wohnt bei seinen Eltern und möchte erst ausziehen, wenn sie gestorben sind. Weil er in seinem Zimmer Schlagzeug spielt, laufen seine Eltern mit schalldämpfenden Kopfhörern durch die Wohnung. Kari und Sami leben im gleichen Wohnheim, was sich auf die Stimmung in der Band negativ auswirkt. „Wir sehen uns einfach zu oft“, sagt Sami, während Kari daneben sitzt. Als Sami später summt, hält sich Kari demonstrativ die Ohren zu, streckt ihm die Zunge raus, zeigt ihm den Mittelfinger.

Auch manche Interessen der Bandmitglieder abseits der Bühne sind nicht unbedingt punkkonform: Der füllige Sami ist aktives Mitglied der bürgerlich-liberalen Zentrumspartei, „weil die als Einzige nett zu mir sind“. Kari ist Harley-Davidson-Fan und besucht regelmäßig Motorradmessen. Der schlaksige Brillenträger Pertti lebt zurückgezogen in einer eigenen Wohnung. Er ist der Einzige, der auch in seiner Freizeit überzeugter Punkrocker ist und Klassiker wie The Clash hört. Weil in seinem Kopf Stimmen umherirren und er sich nicht anders mitzuteilen weiß, spricht Pertti immer wieder mit Gegenständen, streicht über seine Bartstoppeln und flüstert zu seiner Jacke. Niemanden stört das. Keiner beachtet ihn, wenn er undefinierbare Geräusche von sich gibt.

In Jyväskylä setzt Kari zum fünften Song an und schaut dabei so grimmig in die Runde, als wollte er jedem hier eine Tracht Prügel verabreichen. Bam-bam-bam-bam, der Drummer drischt los, der Bass steigt ein, das Intro erinnert an einen Auffahrunfall. Und endlich packt es auch das Publikum, immer mehr Leute springen auf, die Gitarre scheppert los. Jetzt tobt fast der ganze Saal. Kari schreit: „Decision-makers don’t give a shit!“

Trommelwirbel, schon nach einer halben Stunde brüllt Kari die letzte Strophe des Abends, Sami fetzt sein Solo, das Publikum tanzt. „Decision-makers are cheaters“, schreit Kari ins Mikro. „Kill them all“, die Menschen brüllen die Parolen mit. Dann ist der Auftritt vorbei, das Publikum fordert eine Zugabe. Toni sitzt schwitzend hinter seinem Schlagzeug, grinst, zieht die Lederweste aus und reckt wieder den Arm mit der Colaflasche in die Luft. Das Publikum antwortet mit gereckten Fäusten. Pertti hüpft fluchtartig von der Bühne, Kari folgt ihm im Laufschritt, beifallumtost. „Ich hasse diese Welt“, heißt es in einem ihrer Songs. „Denn im Parlament wird so vieles versprochen. Aber die Versprechen werden nicht umgesetzt. Ich hasse diese Welt.“