Gesellschaft

Sein Tag in der Kiste

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Guido Maria Kretschmer hat eine Blitzkarriere im Privatfernsehen hingelegt, obwohl er um zu viel Krawall einen Bogen macht. Und im wahren Leben Mode entwirft.

Iris trägt ein schwarzes Acrylkleid mit Applikation. Ihre Frisur sitzt nicht. Zur Musik aus dem Off jault sie einen Schlager ins Mikrofon. Das Publikum lacht sie aus, und Dieter Bohlen sagt, wenn sie zu Hause singt, werde ihr Mann zu den Nachbarn flüchten.

Es sind solche Momente, in denen Guido Maria Kretschmer zwei Mal hinschaut. Er sieht dann nicht die untalentierte Kandidatin, die glaubt, dass sie ein „Supertalent“ ist, sondern eine Frau mit sechs Kindern, wenig Geld und Ringen unter den Augen. Er nennt das „sich scharf stellen“. Nicht das Äußere beurteilen, sondern den Menschen, der allen Mut zusammengenommen hat, um auf die Bühne zu gehen und zu sagen: Hallo, hier bin ich. Deshalb sagt er, als Iris’ Gejaule beendet ist: „Meins ist es nicht. Aber ich hoffe, deine sechs Kinder sind stolz auf dich.“ Und: „Schön, dass du da warst.“

Es sind Momente, in denen Kretschmer in seinem Element ist. Er lacht, er leidet, er tröstet. Drei Eigenschaften, die mit dazu beigetragen haben, dass er eine der bemerkenswertesten Karrieren der vergangenen Jahre im Boulevardfernsehen hingelegt hat. Vom mehr oder weniger bekannten Modedesigner zum Juror im „Supertalent“. Und das ohne Krawall oder dass er die Modetucke vom Dienst gibt, die einen auf exzentrisch macht.

Er müsste müde sein, ist aber hellwach

Das Phänomen Kretschmer sitzt an diesem Morgen in seinem Berliner Showroom und trinkt Pfefferminztee. Zum Entwerfen kommt er derzeit nicht viel. Wie auch, wenn man mehrmals in der Woche auf dem Bildschirm auftaucht. Freitagabend: „Riverboat“ im MDR. Samstagabend: „Supertalent“ auf RTL. Montag bis Freitag: „Shopping Queen“ auf Vox. Dazu Signierstunden zu seinem neuen Stil-Buch, das auf Anhieb auf Platz 3 der Bestsellerliste schnellte. Die nächste Woche beginnt mit der Aufzeichnung des Prominentenspecials von „Wer wird Millionär?“

Kretschmer müsste müde sein, aber er ist hellwach. Und das lilafarbene Samtsofa, auf das er sich fläzt, reicht als Bühne, die er braucht, um seinen Gast auch an diesem kühlen Herbstmorgen zu unterhalten.

Kretschmers zweite Karriere abseits des Laufstegs begann Anfang 2012, mit 47 Jahren. „Als ich das Angebot für ,Shopping Queen‘ bekam, wusste ich, das ist es: Das habe ich meine ganze Kindheit gemacht, im Kaufhaus gesessen und Frauen beobachtet, die aus der Umkleidekabine kamen und sich im Spiegel betrachtet haben.“ In der Vox-Sendung kommentiert er das Styling der Kandidaten und vergibt Punkte. Eine Sendung in der Kategorie von „Frauentausch“ oder „Schwiegertochter gesucht“. Vermutlich hatte der Sender zu Beginn passable Einschaltquoten und eine durchschnittliche Medienaufmerksamkeit erwartet. Aber es wurde ein Publikumsrenner. Und Kretschmer ein Star.

Auf Augenhöhe

Seitdem wird er permanent auf der Straße angesprochen und ist gerngesehener Gast in Talkshows, auch, weil jeder Gastgeber sich darauf verlassen kann, dass Kretschmer den Abend schmeißt. Wie im April, als er bei „Markus Lanz“ ziemlich komisch davon erzählte, wie er bei seiner Musterung Rilke, Fontane und die zwölf Strophen der „Vergeltung“ von Annette von Droste-Hülshoff rezitierte und der Arzt ihn schließlich als „nicht geeignet für den Wehrdienst“ einstufte. In der Sendung konnte man auch beobachten, wie Sitznachbar Peter Scholl-Latour für einen Moment die Schwere der Weltpolitik vergaß und tatsächlich minutenlang lächelte. Vielleicht auch, weil er zuvor durchaus auf Augenhöhe mit Kretschmer über den Nordkorea-Konflikt diskutiert hatte.

Es ist das Überraschungsmoment, mit dem Kretschmer punktet. Was? Ein Modedesigner, der über was anderes als Mode reden kann?

Das kann er. Manchmal fast atemlos. Und übergangslos. Über Politik, Literatur, Geschichte, seinen Garten, Kuchenrezepte. „Meinen Erfolg macht auch aus, dass ich breiter bespielbar bin.“ Und er damit nicht nur Frauen begeistert. In einer Talkshow saß er neulich neben Norbert Blüm. „Der sagte mir nach der Sendung: ,Es war so eine Freude, Sie kennenzulernen.‘ Er hat mich sogar eingeladen und will mal für mich kochen. Das fand ich süß.“

„Seid froh mit dem, was da ist“

Kretschmer kann Menschen für sich einnehmen. Ein Talent, das in den vergangenen 25 Jahren, als er seine Modemarke „Guido Maria Kretschmer Couture“ aufbaute, hauptsächlich seine Kundinnen erlebt haben. Die aber waren ihm stets treu ergeben, luden ihn zu Hochzeiten ein und riefen ihn auch an, wenn die Scheidung anstand. Als Dank hat er einigen, wenn auch anonymisiert, in seinem Buch „Anziehungskraft. Stil kennt keine Größe“ ein Denkmal gesetzt. Es sind zum Teil anrührende Geschichten von Frauen, die fiese Ehemänner haben oder ein Dasein als Geliebte fristen. Die das Beste aus ihrem Alter, ihrer Figur, ihrem Leben überhaupt machen. „Ich wollte keinen x-ten Ratgeber schreiben, von wegen: ,Sie sind der V-Typ, bitte halten Sie sich fern von Faltenröcken‘‘“, erzählt er. „Es ist eine Hommage an Frauen, die vielleicht dicker sind, die Eigenheiten haben, die speziell sind. Um ihnen zu sagen: Seid froh mit dem, was da ist.“

Mit solchen Aussagen hat er sich wie auch in „Shopping Queen“ seine Fangemeinde aufgebaut, die ihm im Gegenzug beste Einschaltquoten besorgt. Kretschmer ist kein Stildiktator, der von Dos and Don’ts redet und Size Zero propagiert. Er diffamiert Frauen nicht und bekennt sich zu seinen eigenen Schwächen. „Meine Mutter sagte mir: Du warst immer jemand, der vieles konnte, wenn er es wollte, der aber auch keine Angst hatte, seine Unzulänglichkeiten zu zeigen.“ Seine Haltung zeigt sich auch bei der meistgestellten Frage in Interviews: Wie finden Sie die Blazer von Angela Merkel? Niemals würde er antworten: Sieht Mist aus! Stattdessen: „Was soll ich sagen: Sie fühlt sich wohl. Punkt. Aber wer spricht darüber, wenn einem männlichen Politiker Haare aus der Nase wachsen? Oder wenn sie mit einem Anzug daherkommen, der nicht sitzt?“

Toleranz und Empathie sind Wörter, die er oft benutzt. Man wird schwer jemanden finden, der ihn unsympathisch findet. „Hallo, Guido“, rufen ihm die Leute auf der Straße zu. Sie umarmen ihn und küssen ihn. Und Guido freut sich. Noch hat er nicht das Gefühl, auf Distanz gehen zu müssen.

Er versteht sich als Wächter

Die Sicherheit, die er dabei ausstrahlt, hat ihm seine Familie mitgegeben. Aufgewachsen ist er in der Nähe von Münster. Er erwähnt sie immer wieder, seine glückliche Kindheit. Selbst die traurigen Geschichten der Großmutter von der Flucht aus Schlesien haben ihn inspiriert. „Daher vielleicht auch meine Nähe zur Poesie, weil meine Großmutter immer gesagt hat: Alles was wir damals mitnehmen konnten, hatten wir im Kopf.“ Wenn er heute mit einem seiner drei Geschwister telefoniert, wird hauptsächlich gelacht. „Ich war ein humorvolles Kind.“ Seine Entertainerqualitäten hätten sich schon früh gezeigt. Seine Mutter sagt, dass er als kleiner Junge mal mit ausgebreiteten Armen vorm Fernseher stand und sagte: „Mama, eines Tages bin ich in der Kiste.“ Seine Arbeit als Messdiener sah er vor allem als großen Auftritt auf einer sonntäglichen Bühne. Aber er mochte auch den Stoff des roten Messgewands. Als er mit neun Jahren eine Nähmaschine geschenkt bekam, war sein Weg vorgezeichnet. Nicht der des Entertainers, sondern der des Modedesigners.

Seine zweite Karriere, die parallel zur Mode läuft, ist noch nicht beendet, auch wenn er bei „Shopping Queen“ aus Zeitgründen aufhört und er vermutlich weiß, dass man im grellen Licht des Boulevards auch schnell verglühen kann. Mit RTL plant er eine neue Show, in der es auch um Frauen und ihr Aussehen geht, aber so wie Kretschmer es versteht: Frauen müssen nicht schön sein. Sie müssen Persönlichkeit haben. Und er wird wieder sehr darauf achten, dass niemand lächerlich gemacht wird. So wie er sich beim „Supertalent“ ein bisschen auch als Wächter versteht. Man könnte auch sagen: als Anti-Bohlen. „Wenn ich gemerkt habe, dass da vorne auf der Bühne eine verletzte Seele steht, bin ich sofort dazwischengegangen, hoch auf die Bühne und habe dem Kandidaten gesagt: Du musst jetzt besser gehen, das wird nix.“