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Dax-Rekord, und keiner geht hin

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Die Börsenkurse steigen und steigen, doch die Deutschen haben davon nichts: Aktien fassen sie nicht an. Das hat seine Gründe.

Mitgezählt hat am Ende niemand mehr. Zu oft gab es in diesen Tagen neue Bestwerte, zu häufig hieß es „Rekord, Rekord“. Nahezu täglich schwingt sich der deutsche Aktienindex derzeit zu neuen Höchstständen auf – die noch zu Jahresanfang als unerreichbar geltende Barriere von 9000 Punkten hat der Dax mit Leichtigkeit übersprungen, nun nehmen die ersten bereits die nächste Marke in den Blick: 10.000 Punkte.

Alles scheint möglich in diesen Wochen, in denen sich Deutschlands wichtigster Aktienindex so stark präsentiert wie nie zuvor. In Zahlen sieht die Erfolgsgeschichte so aus: Zugewinn seit Jahresanfang: 18 Prozent. Zugewinn im vergangenen Jahr: 29 Prozent. Macht zusammen: eine der größten Aktienrallys in der deutschen Geschichte.

Es sind Unternehmen wie der Autobauer BMW oder der Chemiekonzern BASF, deren Kurse derzeit nach oben schießen – Firmen, die fast jeder Deutsche kennt. Und doch ist hierzulande nichts zu spüren von einer Begeisterung für deren Aktien, im Gegenteil: Zu einem Zeitpunkt, zu dem viele deutsche Unternehmen ihr bestes Börsenjahr aller Zeiten hinlegen, wenden sich die Deutschen von der Börse ab. Gerade einmal 9,4 Millionen Bundesbürger besitzen Aktien oder Aktienfonds, das sind weniger als im Jahr 2012. Die Zahl der direkten Aktionäre ist noch niedriger – sie liegt mit 4,9 Millionen Menschen bei gerade einmal 7,5 Prozent der Bevölkerung. Kurz gesagt: Die Börse boomt – und die Deutschen sind nicht dabei. Es kaufen stattdessen die anderen. Gut zwei Drittel der Anteile an allen Dax-Konzernen halten Ausländer, darunter viele amerikanische Investmenthäuser. Sie sind es vor allem, die von Deutschlands Aktienaufschwung profitieren.

Den Deutschen sind Aktien zu kostspielig

Sind wir ein Volk von Angsthasen? Mögen die Gründe für das Investieren in Aktien noch so überzeugend sein, mag man uns noch so häufig vorrechnen, dass angesichts der aktuellen Niedrigzinsen nur Aktien ausreichende Renditen einbringen – am Ende bleibt der Unterschied zu anderen Nationen frappierend: Mehr als die Hälfte aller Amerikaner besitzt Aktien, gut ein Drittel der Niederländer und immerhin rund ein Fünftel der Schweden. Das kann nicht einfach daran liegen, dass die Deutschen schlechtere Nerven haben. Oder etwa doch?

Wer sich auf die Suche nach den Gründen für die Aktienphobie der Bundesbürger macht, hört zumindest das Argument immer wieder: Die Deutschen seien eben von Natur aus besonders risikoscheu. Ein großer Blödsinn sei das, findet Andreas Hackethal, Finanzprofessor an der Frankfurter Goethe-Universität. Hackethal hat die deutsche Aktienunlust in mehreren Studien untersucht – und ist dabei zu einem klaren Ergebnis gekommen: Wenn sich Menschen auf etwas nicht einlassen, kann es aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht nur einen Grund dafür geben – die Sache ist ihnen zu teuer. Mit anderen Worten: Den Deutschen sind Aktien schlicht zu kostspielig.

Aber kann das stimmen? Schließlich kann jeder heutzutage ohne Schwierigkeiten ein kostengünstiges Online-Depot eröffnen, schließlich ist das Handeln von Aktien auch für Privatanleger ohne hohe Gebühren möglich. Es müssen also andere Kosten sein, um die es sich handelt – in der Ökonomie hören sie auf einen umständlichen Namen: Informationskosten. Damit ist gemeint: Es erscheint vielen Deutschen schlicht zu aufwendig, ihre Zeit in das Verstehen des Aktienmarktes zu investieren. Dies hat vor allem damit zu tun, dass es jahrzehntelang eine vermeintlich bequemere Form der Vorsorge gab, bei der man selbst gar nichts machen musste – die gesetzliche Rentenversicherung.

Deutsche Unternehmen bevorzugten Bankkredite

Die ist zwar im Detail auch nicht immer leicht zu begreifen. Doch lange Zeit vertrauten die Deutschen ohne größere Sorgen auf deren Umlageverfahren: Jede Generation zahlte die Rente ihrer Eltern und konnte sich sicher sein, dass ihre Kinder dies auch eines Tages tun würden. Davon ließ sich im Ruhestand einigermaßen leben, warum also sich um so etwas Komplexes wie die Geldanlage in Aktien kümmern? Allerdings: Gänzlich darauf verlassen haben sich die Deutschen dann doch nie. Schon immer gehörten sie zu den Sparweltmeistern, zahlten beachtliche Summen auf ihre Sparbücher ein. Aber auch das war ein einfacherer und bequemerer Weg als ein Aktieninvestment.

Ganz anders die Amerikaner. Dass sie ein Volk der Aktionäre sind, hat auch viel mit einer recht kryptisch wirkenden Abkürzung zu tun: 401 (k). Dabei handelt es sich um spezielle Pensionspläne, die Amerikaner über ihren Arbeitgeber abschließen – benannt nach dem Gesetzesparagraphen, in dem die Ausgestaltung geregelt ist. Auf diesen 401-(k)-Pensionsfonds ist ein Großteil der Altersvorsorge der amerikanischen Bevölkerung aufgebaut, und die Gelder, die die Amerikaner hier einzahlen, fließen vor allem in eine Anlageklasse – in Aktien.

Das erklärt, warum Amerikaner sich so leicht mit der Aktie tun: Sie sind quasi gezwungen, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Durch die ständig aktualisierten Mitteilungen zum Stand ihres Fondsvermögens lernen sie, mit Kursschwankungen umzugehen, sie erhalten ein Gefühl dafür, was an der Börse gerade los ist. „Das sind wichtige Erfahrungs- und Lerneffekte, die auch innerhalb der Familie weitergegeben werden“, sagt Forscher Hackethal. „Den Deutschen fehlt dies.“ Zwar sind die Vorsorgesysteme europäischer Länder im Detail nicht mit den Vereinigten Staaten vergleichbar. Aber auch beispielsweise in den Niederlanden, in Großbritannien und in Skandinavien gilt: Die Aktie spielt bei der Altersvorsorge eine viel größere Rolle. Auf diese Weise lernen die Menschen den Umgang damit – und kaufen dann eben auch mal selbst einen Anteilsschein.

Doch allein mit der unterschiedlichen Art der Altersvorsorge lässt sich die Zurückhaltung der Deutschen nicht erklären. Sie hat nämlich nach Meinung vieler Forscher auch mit der Art des deutschen Finanzsystems zu tun. Was so hochtrabend klingt, bedeutet in einfachen Worten: Während es in Amerika und Großbritannien völlig normal ist, dass Firmen sich frisches Geld über die Börse beschaffen, verfolgten die meisten deutschen Unternehmen jahrzehntelang einen anderen Weg – sie nahmen Bankkredite auf.

Fünf Prozent Rendite pro Jahr

Was das mit dem einzelnen Anleger zu tun hat? Eine ganze Menge. Eine Gesellschaft wie die deutsche, in der Banken stets als erste Ansprechpartner in allen Finanzfragen gelten, ist dann nämlich auch besonders an Zinsen und Sparbüchern interessiert. In Amerika dagegen, wo Börsengänge und Kapitalerhöhungen an der Tagesordnung sind, steht stattdessen die Aktie im Vordergrund. Wissenschaftler sprechen in einem solchen Fall von Pfadabhängigkeit.

Doch es gibt bei aller sachlichen Analyse auch ein aufwühlendes Ereignis, das vielen Deutschen die Freude an der Aktie verleidet hat: Noch immer wirkt der Absturz der Aktie der Deutschen Telekom wie ein kollektives Trauma. Auf dem Höhepunkt des Internetbooms im Jahr 2000 trauten sich viele Deutsche erstmals an Aktien heran, zeichneten Neuemissionen wie im Rausch und setzten unter Missachtung aller Anlageregeln alles auf nur wenige Aktien. Am Ende wurden sie bitter enttäuscht: Binnen weniger Monate verlor vor allem die Telekom-Aktie fast 90 Prozent an Wert. Verluste, die für viele den Aktienkauf bis heute zum Tabu machen.

Bezeichnenderweise gab es in der deutschen Geschichte nur einen einzigen Zeitpunkt, zu dem die Bundesbürger einen größeren Anteil ihres Vermögens in Aktien hielten als im Jahr 2000. Dies war im Jahr 1950, die Quote lag damals nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts bei stattlichen 26,5 Prozent. Grund für den ungewöhnlichen Anstieg: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten viele Menschen ihre Immobilien verloren, Staatsanleihen waren ausgefallen – viele deutsche Unternehmen aber existierten nach wie vor. Ihre Aktien und der damit verbundene Wert hatten den Krieg überdauert.

Allein das ist schon ein eindrucksvolles Argument für die Vorzüge der Aktie. Doch noch stärker wirkt selbst bei den skeptischen Deutschen womöglich eine Zahl: Danach konnten Anleger, die seit dem Jahr 2000 Monat für Monat eine feste Summe in den Dax investiert haben, trotz des Aufs und Abs der Kurse in all der Zeit ein gutes Geschäft machen. Die Rendite betrug im Schnitt fünf Prozent pro Jahr.