Gesellschaft

Die Show beginnt

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Die Krise des Varietés ist vorüber, auch dank der vielen Frauen unter den Gästen. Im „Crazy Horse“ liegt es außerdem an der Chefin: Andrée Deissenberg lässt das Cabaret in die Zukunft tanzen.

Von ihren beiden Katzen und den Hühnern, zu denen sie an den Wochenenden aufs flache Land im Süden von Paris fährt, erzählt Andrée Deissenberg gern: in den kurzen Pausen zwischen den Proben. Tiere mag sie, bei denen erholt sie sich von der Stadt. Ohne die Katzen und ganz ohne Bäume kann sie nicht mehr sein, nach den Jahren in Las Vegas, Montreal oder Amsterdam und den monatelangen Tourneen mit dem Cirque du Soleil um die halbe Welt. Zwölf Jahre war sie die Pressechefin des kanadischen Zirkusunternehmens, dann kam unerwartet, aber wohl im richtigen Augenblick, ein Angebot aus Paris, das sie nicht ablehnen wollte.

Also übernahm Andrée Deissenberg, damals noch keine 40 Jahre alt, als Direktorin das Cabaret „Crazy Horse“, eines der letzten namhaften Revuetheater aus der Generation so bekannter Etablissements wie „Moulin Rouge“, „Lido“, „Paradis Latin“ oder „Folies Bergère“. Eine Herausforderung nennt es die Prinzipalin lächelnd, die noch immer aussieht wie ein Model, die Figur eines Varieté-Girls besitzt und ein halbes Dutzend europäische Sprachen überzeugend konfliktfähig beherrscht. Dass sie beim Zirkus gelernt hat, wie Marketing funktioniert, mag den Ausschlag gegeben haben, als die beiden belgischen In vestoren Philippe Lhomme und Yannick Kalantarian sie im Juli 2005 zur Geschäftsführerin machten.

Das war elf Jahre nach dem Suizid von Alain Bernardin, dem 78 Jahre alten Gründer, Besitzer und künstleri schen Leiter des „Crazy Horse“, im September 1994. Am Abend gab es damals, was das Programm verhieß: zwei Stun den Revue samt Striptease. Louis Camiret, Bernardins Teilhaber, wollte das so. Bernardin wurde mit einem Kopfschuss in seinem Büro tot aufgefunden, die Waffe neben sich. Suizid also, entschied Camiret. „Die Show muss weitergehen, denn das hier ist eine Stätte des Amüsements.“ Das Geld für die Tickets und die halbe Flasche Champagner auf jedem Tisch mochte er unter diesen Umständen seinem Publikum nur ungern erstatten.

Frühgeschichte als Bingo-Bude und Wildwest-Varieté

Das „Crazy Horse“, 1951 in einem leergeräumten Wein- und Kohlenkeller eröffnet, war seinerzeit das jüngste und mit Abstand kleinste der Pariser Cabarets. Charles Aznavour hatte dort einen seiner ersten Auftritte, und der Modeschöpfer Jean Paul Gaultier war lange Stammgast in dem Haus, das am unteren Ende der Avenue George V liegt, nicht weit von der Seine entfernt, auf halber Strecke zwischen Eiffelturm und den Champs-Elysées, schräg gegenüber einem Laden von Yves Saint Laurent. Darauf legte schon Alain Bernardin größten Wert: vom Dunstkreis der Rotlichtviertel deutlichen Abstand zu halten.

Dass die Damen im „Crazy Horse“ mehr oder weniger nackt zu tanzen pflegen, gewissermaßen ihr „Freistellungsmerkmal“, durfte durchaus frivol erscheinen, aber doch nicht ordinär und erst recht nicht obszön. Unter den vornehmen Bürgerhäusern im achten Arrondissement mit den geräumigen Wohnungen, vielen passablen Restaurants, Kneipen und den kleinen Hotels wirkt der schmale Eingang zum „Crazy Horse“ unmittelbar neben einem Restaurant, das seine Tische gern nach draußen stellt, wie ein in charmante Länge gezogenes Augenzwinkern, das trotz leuchtend rotem Kussmund Dezenz und Diskretion in Aussicht stellt. Der Zugang zur Treppe in den Keller ist mit einem armdicken Seil symbolisch versperrt, ein baumlanger Kerl in Ranger-Uniform regelt den Zutritt. Zwei Shows gibt es täglich, samstags zusätzlich eine dritte. Das geht bei vollem Haus ohne geordneten Sitzplatzwechsel offenbar nicht vonstatten. Der Ranger ist eine sentimentale Reminiszenz an die unsortierte Frühgeschichte des „Crazy Horse“ als Bingo-Bude und Wildwest-Varieté.

Mehr Frauen und mehr Franzosen unter den Gästen

Die allgemeine Krise der Pariser Revuetheater am Anfang dieses Jahrhunderts, deren Beginn gern auf den 11. September 2001 datiert und mit dem massenhaften Fernbleiben der amerikanischen Touristen begründet wird, scheint inzwischen vorüber. Seit vier oder fünf Jahren geht es in fast allen Cabarets wieder aufwärts. Die Asiaten wie die Amerikaner sind zurückgekehrt, wenn auch nicht mehr in großen Scharen. Dafür sind die Europäer in der Überhand, und in manchen Shows sitzen mehr Frauen als Männer, pärchenweise und in gemischten Gruppen, wenn nicht als geschlossene Damenriegen – ein vollkommen neues Phänomen. Vor 50 Jahren wurden ungebunden auftretende Damen von den reinen Herrengesellschaften noch mit aufmunternden Pfiffen begrüßt. Jetzt sind Pärchen die Regel – und allein reisende Herren, einsam und ernst vor einer Flasche Champagner, die Ausnahme.

Und die Gäste werden jünger. „Als ich hier anfing, lag das Durchschnittsalter zwischen 40 und 55 Jahren, eher bei 50 als bei 40. Jetzt sitzen auch Zwanzigjährige in unseren Shows“, sagt Andrée Deissenberg. „Mich macht das stolz, wenn ich die Mädels mit ihren hohen Hacken sehe. Die kommen in Gruppen, trinken Champagner und haben Spaß, das freut mich. Amerikaner und Asiaten sind weniger geworden, das stimmt, dafür kommen mehr Frauen und mehr Franzosen, bis zu 70 Prozent. Noch vor fünf oder sechs Jahren waren es weniger als die Hälfte. Da wird ein Neo-Feminismus spürbar, den ich oft als Burlesque-Movement bezeichne, auch wenn das Wort vielen Männern nicht gefällt.“ Beim Gastspiel in Kiew habe man es ebenso angetroffen wie unlängst in Cannes, wo die „Crazy Girls“ während des Sommers auf der Festival-Terrasse in einem Spiegelzelt mit 4000 Plätzen gastierten.

Feste Stiefel tragen die Damen – mehr nicht

Die Chefin vom „Crazy Horse“ hat die Geschichte ihres Hauses gründlich studiert, sie beschränkt ihre Auskünfte eloquent aufs Anekdotische, das Zwischenfragen meist schon vorwegnimmt. Warum Alain Bernardin ganz früh auf die Burlesque gesetzt und damit seinem Cabaret bis heute eine Nische geöffnet hat, die das „Crazy Horse“ schärfer profiliert als andere Revuetheater? Von den eigenwilligen Bühnennamen seiner Tänzerinnen bis zu den ausgefallenen Accessoires und den choreographischen Akzenten besaß alles einen ironischen Beiklang. Nicht bloß der schieren Nacktheit verlieh das einen versöhnlich heiteren Anstrich. Anrüchig war da nichts. Denn „L’Art du Nu“, die Kunst des Nackten, die Bernardin zum ästhetischen Prinzip erklärte, mag vielleicht provokant sein – zweideutig ist sie nicht. Sondern so offen wie ehrlich und dazu entwaffnend defensiv. Mit einem der schönsten Auftritte, dem Einmarsch der Bärenfellmützen, fängt die Show gewöhnlich an. Ein weithin unbekannter Soldat, Oberleutnant der britischen Armee, hat sie vor Zeiten einstudiert, seitdem gilt die Nummer „God Save Our Bareskin“ als einer der Klassiker im „Crazy Horse“. Feste Stiefel tragen die Damen, aber sonst sind sie nackt. Abgesehen davon, dass auch ihnen die raffinierte Lichtregie gelegentlich virtuelle Hüllen auf die schönen Körper wirft.

Alain Bernardin, so raunt Andrée Deissenberg mit leisem Lächeln, habe stets von der Kunst der Frustration gesprochen: „Du glaubst, ich gebe dir alles, aber du bekommst nichts. Du denkst, du siehst etwas, aber du siehst nichts. Das ist die feine Frustration, aus der Imaginationen, Träume und Phantasien entstehen.“ Da sie gern von Tieren erzählt, folgt zur Erläuterung die Geschichte vom Floh, auch ein Klassiker, den die Tänzerinnen schon aufsagen können, bevor sie das erste Mal auf der Bühne stehen.

Schiere Nacktheit reicht nicht aus

Der Floh spielte die Hauptrolle im ersten Striptease, den es im „Crazy Horse“ gab, in den frühen fünfziger Jahren, als der Keller schon nicht mehr als „Western Saloon“ dekoriert war, sondern fast über Nacht zum Varieté geworden war. Den Wandel zur Striptease-Bühne hatte der Sänger Bing Crosby seinem Freund Alain Bernardin ans Herz gelegt: „Wenn Du die Mädchen nicht nackt auf die Bühne schickst, gibt das hier nie etwas“, hatte er prophezeit, als Bernardin mit seinem trendfernen Schuppen zum zweiten Mal auf eine Pleite zusteuerte. Der Burlesque-Striptease, für Paris damals fast so neu wie der French Cancan, musste aber regelrecht ertanzt, wenn nicht überhaupt choreographisch plausibel aufgeführt werden. Schiere Nacktheit reichte da nicht aus, bestätigt die Prinzipalin amüsiert. Man müsse sich natürlich dazu bewegen können – mit allem, was man hat. „Also hat das Mädchen in seinen imaginativen Kleidern aufgeregt und immer ungestümer nach dem Floh gesucht: so lange, bis er endlich gefunden war.“

Auf der Bühne tragen die Mädchen Phantasienamen wie „Fuzzy Logic“ oder „Nooka Karamel“, „Venus Ocean“ oder „Candy Saint Louis“. Sie dürfen nicht kleiner als 1,66 Meter und nicht größer als 1,75 Meter sein, sind meist zwischen 20 und 22 Jahren alt und haben eine klassische Ballettausbildung. Als Nooka im Juli ihr zehnjähriges Jubiläum bei „Crazy Horse“ beging, durfte sie ihre Eltern und ihre besten Freunde in die Show einladen und sich eine Spätvorstellung lang feiern lassen. So lang wie Nooka, einer der Stars hier, bleiben aber nicht alle bei der Stange.

Die kleinste und feinste Pariser Cabaret-Bühne

Und danach? Viele werden Physiotherapeutin, Choreographin, eröffnen eine Tanzschule oder werden Yoga-Lehrerin. Angehende Architektinnen oder Rechtsanwältinnen sind die Ausnahme. „Die meisten bleiben im Showgeschäft“, sagt die Chefin, die beiläufig durchblicken lässt, dass die Tänzerinnen selbstverständlich nach den Tarifen der Gewerkschaft entlohnt werden. Schwarze Kassen wie beim väterlich-fürsorglichen Alain Bernardin, der für die Mädchen 20 Prozent der Bühnenlöhne auf die hohe Kante legte, sind verboten. Zum Corps de ballet gehören 18 Tänzerinnen, von denen sich zwölf von Show zu Show abwechseln. Zehn weitere springen als Freelancer bei Ausfällen durch Krankheit oder Verletzungen ein und verstärken die Truppe bei Gastspielen wie in Las Vegas (2001) oder München (2012) und den vergeblichen Anstrengungen, dem Cabaret Filialen in Singapur oder South Carolina einzurichten, die oft mit dem Original nur den Namen gemeinsam hatten.

Andrée Deissenberg hat das Haus umgebaut und die Bühnentechnik von Grund auf renoviert. Mit den Büros und Werkstättten wird sie demnächst an die Peripherie ziehen, um mehr Platz für die kreativen Abteilungen zu schaffen. Ein Glücksgriff war die Entscheidung, den Tänzer und Choreographen Philippe Decouflé als Show-Produzenten zu verpflichten. Decouflé hat schon Abschlussfeiern bei Olympischen Spielen organisiert, kommt aber auch mit kleinen Räumen und wenig Akteuren aus, wie seine Inszenierungen für das „Crazy Horse“ zeigen. Was man auf den ersten Blick für ausgeklügelte Lichteffekte halten mag, ist die subtile Inkarnation von „L’Art du Nu“: ein Schattenspiel mit wunderschönen Figurinen, die mal nur als Konturen sichtbar sind, mal nur vermeintlich vom Körper gelöste Arme oder Beine vorzeigen.

Das „Crazy Horse“ besitzt keine Eisfläche wie das „Lido“, kein Wasserbassin wie das „Moulin Rouge“ und kein Hochseil wie das „Paradis Latin“. Es bietet vor der Show nur ein Dinner im Restaurant nebenan, darüber hinaus allerdings reichlich Champagner. Dafür sitzt man dort ganz nah an der kleinsten, feinsten Pariser Cabaret-Bühne. Anzuschauen ist „L’Art du Nu“, ganz buchstäblich. Nicht mehr. Weniger auch nicht.