Ausland

Abstürzende Marktplätze

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In Amerika entschuldigt sich die Gesundheitsministerin für die Probleme bei der hastigen Einführung von Obamacare. Präsident Obama attackiert die Kritiker.

Im Sommer verkündete Barack Obama gern, der Abschluss einer Krankenversicherung werde dank der neuen Online-Marktplätze im Oktober so simpel wie die Buchung eines Flugs über das Internetportal Expedia. Als der Termin näherrückte, variierte der Präsident seinen Standardtext und versprach, „Obamacare“ werde Millionen von Amerikanern nicht stärker herausfordern als der Kauf eines Flachbildfernsehers bei Amazon. Wer als Laie versucht hat, sich zwischen LED-, LCD- und Plasmabildschirmen zurechtzufinden, ahnte da schon, dass auch mit Inkrafttreten von Obamas Reform ein passender Versicherungsschutz nicht einfach per Knopfdruck zu haben sein würde.

Doch Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius hat sich am Mittwoch nicht deshalb bei den Amerikanern entschuldigt, weil die verschiedenen Policen und Beihilfeversprechen die Zielgruppe verwirren. Das Problem ist vielmehr, dass der Vorgang für Millionen von Bürgern in etwa so nervenaufreibend ist wie ein Einkauf über eine Internetseite, die immer wieder abstürzt, unerreichbar ist oder mit kryptischen Fehlermeldungen aufwartet. Von einer „jämmerlich frustrierenden Erfahrung für viel zu viele Amerikaner“ sprach Sebelius in einer Kongressanhörung. Die Amerikaner hätten Besseres verdient.

Amerikaner lassen sich ungern vertrösten

In den ersten beiden Oktoberwochen, als die Blockade im Kongress den Stillstand der Bundesverwaltung verursacht hatte, suchte das Weiße Haus die massiven Probleme mit der Website noch in einen Erfolg umzudeuten: Nur weil unerwartet viele Amerikaner schnellstmöglich die Segnungen der Gesundheitsreform in Anspruch nehmen wollten, sei das System in den ersten Tagen überlastet gewesen. Doch inzwischen ist klar, dass die Regierung trotz Warnungen von Computerfirmen, die an dem Projekt beteiligt waren, eine unreife Website freigeschaltet hat.

Gerade einmal zwei Wochen lang hatte sie getestet werden können, nachdem Zulieferer und Regierungsstellen verschiedene Komponenten programmiert hatten. Das genügte nicht, um die zahlreichen Fehler zu beseitigen. Angesichts des tosenden Kritiksturms der Republikaner, die jeden Anlass nutzen, um über „Obamacare“ herzufallen, zögerte das Weiße Haus das Eingeständnis des Scheiterns lange heraus. Wohl auch deshalb scheint Obama schon jetzt den Vorsprung vor den Republikanern in der Wählergunst einzubüßen, den er sich im jüngsten Budgetstreit erarbeitet hatte.

Die Regierung hat inzwischen erstmals den Programmierern eines Unternehmens die Zuständigkeit für das gesamte System übertragen. Dieses ist so komplex, weil es nicht nur die persönlichen Daten der Interessenten speichern und ihnen die für sie in ihrem jeweiligen Bundesstaat bereitstehenden Versicherungsoptionen präsentieren soll, sondern zugleich durch den Abgleich mit Datenbanken etwa des Heimatschutz- oder des Sozialministeriums jeden Missbrauch von Subventionen unterbinden soll.

Das neue Versprechen der Regierung lautet, dass die technischen Tücken bis Ende November beseitigt sind. Doch viele Amerikaner lassen sich ungern vertrösten, auch wenn die Einschreibefrist erst in fünf Monaten endet. Denn sie haben Briefe ihrer bisherigen Krankenversicherungen erhalten, die ihre Policen zum Jahresende wegen der Reform gekündigt haben. Das betrifft zwar nur einen Teil einer ohnehin kleinen Minderheit – nämlich Bürger, die nicht über ihren Arbeitgeber versichert sind und meist aus Kostengründen eine Police abgeschlossen haben, die weit unterdurchschnittliche Leistungen bietet. Da die Versicherer vom kommenden Jahr an neue Mindeststandards zu erfüllen haben, mussten sie alle Verträge kündigen, die diesen nicht entsprechen. Natürlich versuchen die Unternehmen, ihre Kunden für neue, meist teurere Produkte zu gewinnen. Vorgesehen war jedoch, dass die Betroffenen auf der neuen Website der Regierung eine ganze Palette von Angeboten abfragen könnten, die den neuen Standards genügen und in vielen Fällen sogar bezuschusst werden. In den Familien, denen das wegen der Computerprobleme nicht gelingt, ist der Ärger groß. Oft können auch die Telefon-Hotlines nicht weiterhelfen, deren Mitarbeiter sich selbst auf die Website stützen.

Obama beschimpft seine Kritiker

Während Sebelius am Mittwoch unter heftigen Attacken der Republikaner im Repräsentantenhaus die Verantwortung für die technischen Probleme übernahm, flog der Präsident nach Boston, um aufs Neue seine Kritiker zu beschimpfen: Jene Republikaner, die von Anbeginn hätten verhindern wollen, dass alle Amerikaner Zugang zu Ärzten bekommen, jagten nun den Bürgern Angst ein. Der Präsident hatte sich für seinen Auftritt die Faneuil Hall ausgesucht. Sie war nicht nur Schauplatz großer Reden in den Tagen des Unabhängigkeitskampfes gewesen, sondern bot 2006 auch Mitt Romney die Kulisse, um die Gesundheitsreform von Massachusetts zu unterzeichnen. Der Republikaner, der Obama vor einem Jahr in der Präsidentenwahl unterlag, hatte 2006 als Gouverneur des liberalen Neuengland-Staates gemeinsam mit den Demokraten eine Reform vorangetrieben, von der „Obamacare“ unter anderem die umstrittene Idee der Versicherungspflicht übernommen hat. Obama wiederholte sein Plädoyer für Überparteilichkeit. Romney bekräftigte, was für Massachusetts gut gewesen sei, müsse nicht auf ganz Amerika passen.

In Washington erinnerten die Republikaner Obama genüsslich daran, dass er zigmal öffentlich versprochen hat, niemand, der mit seiner Krankenversicherung zufrieden sei, werde zu einer Änderung gezwungen. Der Präsident wandte sich in Boston an die Familien, deren Policen nun gekündigt wurden: „Wenn Sie so einen Brief bekommen, suchen Sie sich einfach etwas Neues auf unseren Marktplätzen!“