Medizin

Änderungen in letzter Minute

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Morgen wird das kontrovers diskutierte amerikanische Psychiatrie-Handbuch DSM-5 erscheinen. Wolfgang Gaebel hat als einer der wenigen deutschen Wissenschaftler daran mitgewirkt.

Herr Gaebel, Sie haben als einer der wenigen deutschen Wissenschaftler an der Neufassung des amerikanischen Diagnose-Handbuchs DSM mitgewirkt. Am kommenden Samstag wird es nun erscheinen. Die Inhalte wurden intensiv öffentlich diskutiert. Gibt es noch Überraschungen?

Die Mitglieder der Arbeitsgruppen sind verpflichtet worden, vor dem 18. Mai kein Wort über die endgültigen Änderungen mehr preiszugeben. Eine Sache ist allerdings jetzt schon breiter bekannt: Ursprünglich sollten diagnostische Kategorien durch eindimensional strukturierte psychopathologische Symptomprofile ergänzt werden, das hieß unter anderem, dass individuelle Symptomausprägungen für die Störungen hätten angegeben werden müssen. Das hat man aus berufspolitischen Gründen in letzter Minute fallengelassen und die Vorschläge zur Dimensionalität in den Forschungsanhang geschoben. Die Gefahr, dass eine falsche Einstufung durch den Arzt und eine darauf basierte falsche Therapie Schadenersatzforderungen nach sich ziehen könnten, erschien dem letztendlich entscheidenden Gremium zu groß.

Viele ursprünglich geplante Neuerungen sind zurückgezogen worden. Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Bei den ersten Vorbereitungen der Neufassung Ende der neunziger Jahre war der Optimismus noch sehr groß, dass man neurowissenschaftliche Befunde hinter den psychiatrischen Diagnosekonstrukten würde berücksichtigen können. Aber die bisherigen Befunde erlauben eine solche klassifikatorische Rolle noch nicht. Wir brauchen künftig mehr solcher Zusatzinstrumente, etwa Genetik, Bildgebung und andere Biomarker. Davon konnte bisher zu wenig auf das revidierte System durchschlagen.

Welche Konsequenzen hat die Veröffentlichung der fünften Fassung des DSM für Deutschland?

Das DSM-5 wird insbesondere im Forschungsbereich wichtig sein. Die international geltende Klassifikation ICD hingegen ist vor allem administrativ von Bedeutung. Nur wenn Diagnosen in Deutschland nach der ICD verschlüsselt sind, fließt das Geld der Krankenkassen. Die Diskussion, die sich in Deutschland über die Neufassung des DSM abspielt, ist im Wesentlichen durch Allen Frances ins Rollen gebracht worden, der sich mit seinem Buch „Normal“, das als Erstes auf Deutsch erschienen ist, als Kritiker positioniert hat. Seine These ist, dass die Normalität geopfert wird auf dem Altar der Psychiatrie, weil man viele nur unterschwellig vorhandene Krankheitsbilder zu Diagnosen erhebt. Ich denke allerdings, wenn es um Prävention geht, kommt man nicht umhin, auch frühe Formen von Krankheiten in den Blick zu nehmen. Das vieldiskutierte „Abgeschwächte Psychose-Syndrom“ hat die DSM-Arbeitsgruppe „Psychosen“, zu der ich gehöre, letztlich in den Forschungsanhang verlegt, weil viele eine vorzeitige Stigmatisierung und medikamentöse Behandlung befürchteten. Auf der anderen Seite wissen wir, dass fünf Jahre ins Land gehen, bevor eine Psychose manifest wird. Da wäre es doch schön, wenn man diese fünf Jahre nutzen könnte. Ich würde daher das Vorgehen, Frühformen zu klassifizieren, nicht per se verdammen wollen und nicht nur die Tendenz sehen, dass man dort neue Behandlungsmärkte schafft.

Sie sind auch Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Psychosen“ für die Neufassung der ICD. Wie geht es mit diesem Manual weiter?

Im Moment ist die Schätzung, dass die ICD-11 2015 erscheinen wird, was manchen Kollegen etwas früh erscheint. Es müssen noch umfangreiche „Field Trials“ durchgeführt werden. Bei diesen Felduntersuchungen werden Psychiatern und Psychologen unter anderem standardisierte Patientenvideos und Fallvignetten mit Beschreibungen von Patienten vorgelegt. Es geht dabei darum, ob mehrere der Gutachter anhand der im Manual festgelegten Kriterien zur gleichen Diagnose kommen. Ich hoffe auch, dass die dimensionale Struktur in etwas vereinfachter Form Eingang in die ICD-11 finden wird. Man kann damit als Behandelnder die Indikationsstellung für eine differentielle Therapie besser gewichten.

Die Fragen stellte Christina Hucklenbroich.