Medizin

Wenn der Appetit unbezwingbar ist

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In der Neufassung des amerikanischen Psychiatrie-Handbuchs DSM-5 ist erstmals von Verhaltenssüchten die Rede. Werden wir bald neu über Adipositas denken und die Diagnose „Food Addiction“ in Betracht ziehen?

Lisa Sellers hat ihr Haus in North Carolina in den vergangenen Jahren nicht mehr verlassen. Ihr neunzehnjähriger Sohn bringt ihr alles, was sie braucht: Pro Tag sind das mehrere Schüsseln Cornflakes, außerdem Hamburger, Pommes, Kekse, Schokolade, Kuchen, Chips, chinesisches Fastfood und Cola. Mit 39 Jahren wiegt Sellers 315 Kilogramm. Täglich verzehrt sie Nahrungsmittel, die mehr als 9000 Kalorien entsprechen. Sellers wurde in den Vereinigten Staaten durch eine Fernsehdokumentation bekannt, auf Youtube ist einer der Filme über sie bisher 800 000 Mal angeklickt worden. Die 39-Jährige schildert ihre Gefühle darin offen und bisweilen voller Trauer. Besonders bewegt wirkt sie, als sie beschreibt, wie eine Freundin in die Drogensucht abrutschte und dafür ihr Leben und ihre Familie aufgab. „Wie könnte ich über sie urteilen“, sagt sie und beginnt zu weinen. „Ich habe ja selbst mein Leben für das Essen aufgegeben.“

Aus dem Off kommentiert eine Sprecherin: „Wie jeder Süchtige würde Lisa alles für den nächsten Kick tun.“ Das ist leicht dahingesagt, aber es führt zu einer bis heute ungeklärten Frage, die sowohl Wissenschaftler als auch Gegner der Lebensmittelindustrie umtreibt: Kann Essen im eigentlichen Sinne süchtig machen? Die überarbeitete Fassung des amerikanischen Handbuchs der psychiatrischen Diagnosen DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), die am Samstag während der Jahrestagung der American Psychiatric Association in San Francisco veröffentlicht werden wird, schafft nun eine neue Grundlage für die Debatte. Erstmals taucht nämlich eine „Verhaltenssucht“ unter den Diagnosen der Kategorie auf, die sich mit den Süchten befasst: die Spielsucht. Auch die Kategorie selbst, unter der die Süchte klassifiziert sind, ändert ihren Namen: Von „Substance-Related Disorders“ zu „Substance Use and Addictive Disorders“. Ursprünglich hatte sogar der Vorschlag „Addiction and Related Disorders“ im Raum gestanden.

Ein erweiterter Suchtbegriff

„Der Begriff Sucht wird erweitert um nicht stoffgebundene Süchte“, erklärt Johannes Hebebrand, der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Duisburg-Essen. „Das erlaubt es, in Betracht zu ziehen, dass auch ein Verhalten wie das von Lisa Sellers als Sucht deklariert werden könnte.“ Hebebrand hat auf dem Kongress der deutschen Fachgesellschaft für Psychiatrie (DGPPN) im vergangenen November einen Vortrag über „Food Addiction“ gehalten, in dem er auch ein Video von Lisa Sellers zeigte, und das Phänomen im vergangenen Jahr im Journal „Obesity Facts“ diskutiert (doi:10.1159/000338310).

“Food Addiction“ wird es in dem am Samstag erscheinenden Werk DSM-5 als Diagnose nicht geben. Allerdings hat es die Internetsucht in den Forschungsanhang, die Sektion III, geschafft, Kaufsucht wurde zumindest intensiv diskutiert. Ihnen und der Ess-Sucht ist eins gemeinsam: Sollten sie als Verhaltenssüchte möglicherweise in einigen Jahren in der nächsten Fassung, DSM-6, offiziell zu Diagnosen erklärt werden, hat das gravierende gesellschaftliche Folgen. Nicht nur der einzelne Betroffene wird dann anders behandelt werden. Die Produktion von Nahrungsmitteln müsste mit demselben kritischen Blick reguliert werden wie die von Tabak. Und während derzeit auf jeder Zigarettenschachtel kleine Schilder kleben, auf denen beispielsweise steht „Rauchen kann tödlich sein“, müsste dann wohl eigentlich über der gesamten Supermarktkühltheke ein Banner hängen mit der Aufschrift: „Die Vielfalt von schnell verfügbaren Lebensmitteln, die wir heute haben, kann einzelne Menschen süchtig machen.“

Stress und Nahrung im Überfluss

Es wäre ein neuer Zugang, um der Volkskrankheit Adipositas zu begegnen. Nach jetzigem Forschungsstand spricht vieles dafür, dass die moderne Lebensweise für das grassierende Übergewicht verantwortlich ist. „Bei jedem Betroffenen sind aber wahrscheinlich eine ganze Reihe verschiedener Faktoren ursächlich: Stress, mangelnde Bewegung, bei manchen ist es auch das vielfältige Angebot an schmackhaften und preiswerten Nahrungsmitteln“, sagt Hebebrand. „Eine neue Diagnose Food Addiction würde nun die Verantwortung externalisieren, sie vom Individuum wegschieben.“ Zur Geschichte der Diagnosekategorie der Suchterkrankungen würde das passen. Noch in der ersten Fassung des DSM im Jahr 1952 firmierten Alkohol- und Drogensucht unter den „Sociopathic Personality Disturbances“, sie wurden als Ausdruck moralischer Schwäche gesehen. Erst in späteren Fassungen fiel diese Einordnung weg, man berücksichtigte zudem soziale und kulturelle Faktoren.

“Dieselbe Diskussion, wie sie historisch stattfand, vollzieht sich jetzt bei der Ess-Sucht“, sagt Hebebrand. Doch es bleiben gravierende Unterschiede zu anderen Süchten. Essen muss jeder, beim Konsum von Alkohol oder Nikotin sieht das anders aus. Zudem essen Menschen wie Lisa Sellers viele verschiedene Produkte, sie sind nicht abhängig von einzelnen Substanzen.

Das Belohnungssystem reagiert

Dennoch hat man in den Vereinigten Staaten ein Messinstrument für „Food Addicts“ entwickelt, das strukturierten Interviews nachempfunden ist, mit denen Substanzabhängigkeiten diagnostiziert werden: den Fragebogen „Yale Food Addiction Scale“. Zudem gibt es Belege dafür, dass schmackhafte Nahrung das Belohnungssystem im Gehirn auf ähnliche Weise stimuliert wie süchtig machende Substanzen. Beteiligt sind unter anderem der orbitofrontale Kortex, die Amygdala und das Striatum. Magnetresonanztomographische Untersuchungen wiesen bei Übergewichtigen eine überdurchschnittlich hohe Aktivität in diesen Strukturen als Reaktion auf Bilder von delikatem Essen nach. Wenn das Übergewicht fortschreitet, scheint das Belohnungssystem allerdings immer weniger sensibel zu reagieren, so dass möglicherweise immer größere Mengen verzehrt werden müssen – das legt zumindest eine große Übersichtsstudie in der Zeitschrift „Neuron“ nahe (doi:10.1016/j.neuron.2011.02.016).

Das Feld der Verhaltenssüchte entwickelt sich insgesamt rasant, im März fand in Budapest der erste internationale Kongress zu „Behavioral Addictions“ statt. Die Psychologin Elisabeth Ardelt-Gattinger von der Universität Salzburg stellte hier Ergebnisse ihrer Studien mit neun bis achtzehn Jahre alten übergewichtigen Kindern und Jugendlichen vor, die sie mit einem Fragebogen interviewte, der die Kriterien für eine Abhängigkeit im geltenden DSM und in der ICD-10, dem Diagnose-Handbuch der WHO, auf das Essverhalten anwendete. Die Salzburger Gruppe konnte bei den Probanden das Gefühl des „Craving“ nachweisen, das massive, unbezwingbare Verlangen nach einem Suchtstoff oder einem Verhalten, in diesem Fall dem Essen. „Je höher der Body-Mass-Index bei den Kindern war, desto stärker ausgeprägt war das ,Craving’“, sagt Ardelt-Gattinger.

Fehldiagnosen sind denkbar

Trotz solcher Befunde kam die deutsche Fachgesellschaft für Psychiatrie im Februar in einem Eckpunktepapier zu den Verhaltenssüchten zu dem Schluss: „Pathologisches Kaufen, exzessives Sexualverhalten und Aspekte von Adipositas können in Einzelfällen Suchtcharakter annehmen, allerdings reichen die Forschungsbefunde nicht für eine Eingruppierung in die Verhaltenssüchte aus.“ Es muss also auf weitere Neufassungen gewartet werden. Diejenigen, die sich wie Johannes Hebebrand bereits jetzt über neue Diagnosen für das DSM-6 Gedanken machen, antizipieren auch schon mögliche Fehler und Fahrlässigkeiten, eine Voraussicht, die wohl Folge der kritischen Rezeption der DSM-5-Entstehung in der Öffentlichkeit ist. Hebebrand verweist etwa auf die seltene, durch eine genetische Mutation bedingte Leptin-Defizienz, die schwerwiegend in die Appetitregulation eingreift. Betroffene haben ständig Hunger und sind vom Säuglingsalter an stark übergewichtig. „Diese Menschen würde man vom Phänotyp her mühelos unter einer neuen Störung ,Food Addiction’ klassifizieren“, erklärt Hebebrand. „Aber die eigentlich notwendige Therapie wäre, das Leptin als Medikament zu substituieren. Deshalb ist es so problematisch, den Begriff Sucht unkritisch zu erweitern.“

Was bringt man also in die Welt, wenn man eine solche neue Diagnose schafft? Hebebrand sagt, es gehe um die grundlegende Frage: „Begreife ich Adipositas eher als physiologische Dysregulation oder als Sucht?“ Eins ist aber für ihn sicher: „Im Fall von Lisa Sellers reden wir nicht mehr über normales Verhalten.“

Kritischer Blick auf die Industrie

Kommt man allerdings zu dem Schluss, dass es sich um ein unabhängiges, eigenes Störungsbild handelt, und entscheidet man sich dafür, hierfür die Kategorie Sucht zu wählen, dann sind gesamtgesellschaftliche Folgen denkbar. „Begriffe wie Food Addiction führen sozusagen ein weiteres medizinisches Label in die Diskussion über Adipositas ein“, sagt Hebebrand. „Das ist für die Gesundheitssysteme interessant, es geht dann etwa darum, ob Operationen angeboten werden müssen. Aber es wird dann auch um die Lebensmittelindustrie gehen und die Frage, ob man an dieser Stelle intervenieren kann.“

In seinem Vortrag in Berlin zeigte Hebebrand, dass die Ernährungsindustrie einen auffällig geringen Output an Studien aufweist. Das Forschungszentrum des Nestlé-Konzerns etwa brachte zwischen 1987 und 2012 nur 688 in der Datenbank PubMed gelistete Publikationen hervor, bei 700 Mitarbeitern an fünf Standorten im Jahr 2012. Hebebrand verglich dieses Ergebnis mit seiner eigenen Publikationsliste seit 1984, auf der allein 412 Paper stehen. „Man kann nun spekulieren, ob die Konzerne sich zum Beispiel darauf konzentrieren, herauszufinden, wie man einen Hamburger so zusammensetzt, dass Menschen möglichst viel davon essen wollen“, sagt Hebebrand. „Das sind Fragen, die darf man haben.“ Süchte seien schwer zu behandeln. „Aber man muss eben auch eine gesellschaftliche Diskussion führen und gegebenenfalls gesetzliche Regelungen dafür schaffen, wie man am Beispiel des Nikotins sehen konnte.“

Maßnahmen gegen neue Süchte

Blickt man auf andere potentielle Verhaltenssüchte und andere Länder, dann hat sich hier genau das vollzogen, was nach einer Etablierung der Diagnose „Food Addiction“ der Lebensmittelindustrie blühen könnte: In Norwegen wurden Glücksspielautomaten verlangsamt und die Verluste limitiert- in der Schweiz sind sie in Gaststätten verboten. In Deutschland tut sich wenig, allerdings wird überlegt, ob man es verbieten sollte, bei Sportveranstaltungen, etwa auf Trikots oder Banden, für das Glücksspiel zu werben. Experten für Kaufsucht halten solche Schritte ebenfalls für notwendig. „Man müsste Marketingstrategien oder auch Kreditmöglichkeiten und die ,One Click and Buy’-Buttons im Internet kritisch hinterfragen“, sagt Astrid Müller, die an der Medizinischen Hochschule Hannover kaufsüchtige Patienten behandelt.

Noch ist nicht hundertprozentig sicher, welche Änderungen am Samstag tatsächlich im Diagnose-Manual DSM-5 auftauchen werden. Die beteiligten Wissenschaftler sind bis zur Publikation zum Schweigen verpflichtet. Aber selbst wenn einzelne Diagnosen wie Ess- und Kaufsucht das Rennen nicht gemacht haben: Die erstmalige Anerkennung der Verhaltenssüchte ist ein Beispiel dafür, dass die Folgen des Manuals über seine jeweils aktuelle Fassung hinausreichen. Die Tür für weitere Diskussionen ist geöffnet.