Natur

Wendige Gejagte

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Obwohl Fruchtfliegen nicht mit leistungsfähigen Sinnesorganen ausgestattet sind, schaffen sie es, vor ihren tierischen Jägern zu fliehen. Das haben sie vor allem, ihren häufigen und schnellen Richtungsänderungen zu verdanken – doch das reicht nicht immer.

Libellen sind pfeilschnell und zugleich so wendig, dass Menschenaugen ihrem Flug kaum folgen können. Wie schaffen es minder agile Insekten zuweilen dennoch, solchen Flugkünstlern zu entkommen? Wenn kleine Fruchtfliegen entwischen, verdanken sie das meist ihrer Unberechenbarkeit. Ihre Überlebenschancen hängen offenbar weniger von leistungsfähigen Sinnesorganen und raschem Reaktionsvermögen ab als vielmehr von den häufigen Richtungsänderungen, die ihren Flug charakterisieren.

Wissenschaftler von der Harvard University in Bedford, Massachusetts haben jetzt genauer untersucht, wie die Insekten ihre Haken schlagen. Stacey A. Combes und ihren Kollegen gelang es erstmals, die Flugbahnen von Libellen und ihren Beutetieren im Detail zu analysieren. Die Forscher wollten einen Einblick in das Wettrüsten, die sogenannte Koevolution, gewinnen von Jägern und Gejagten.

Um Libellula cyanea, eine amerikanische Verwandte der hierzulande heimischen Vierfleck-Libelle (Libellula quadrimaculata), zur Kooperation zu bewegen, wurde sie in einem naturnahen Ambiente mit Buschwerk und Wasserstellen einquartiert. Engmaschige Netze hinderten sie am Abwandern, waren aber durchlässig für Luft und Licht und auch für kleinere Insekten. Wie die europäische Vierfleck-Libelle jagt auch ihre amerikanische Verwandte von einem Ansitz aus.

Auf einem Halm oder Zweig wartet sie geduldig, bis ein Beutetier vorbeifliegt. Um dem Zufall etwas nachzuhelfen, ließen die Wissenschaftler in der Nähe lauernder Libellen hin und wieder einige Fruchtfliegen frei. Bei dieser Gelegenheit filmten sie stets mit mehreren Kameras gleichzeitig. So konnten sie den Flug von jagendem und gejagtem Insekt in allen Raumrichtungen rekonstruierten. Meist dauerte die Verfolgung kaum eine halbe Sekunde, und im Durchschnitt endeten etwa neunzig Prozent der attackierten Fliegen in den Fängen der Libelle (“The Journal of Experimental Biology“, Bd. 215, S. 3869).

Die Fluchtfliege hat keine Chance

Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster – nicht nur bei Genetikern ein beliebtes Forschungsobjekt – flog zwar unerwartet flott. Im Freigehege, bei hellem Tageslicht erwies sie sich als doppelt so schnell wie unter den sonst üblichen Laborbedingungen. Mit den Libellen konnten sich die Fruchtfliegen dennoch nicht messen. Dass sie weniger rasant beschleunigten und bremsten und sich auch weniger wendig zeigten, brachte sie zusätzlich ins Hintertreffen. Selbst wenn es einer Fliege gelang, der Libelle auszuweichen, wurde sie nicht selten wieder eingeholt, gepackt und verspeist.

Meist schienen die Fruchtfliegen die Gefahr ohnehin zu spät zu erkennen, um noch ein Ausweichmanöver starten zu können. Die Libellen sichern sich dadurch, dass sie gewöhnlich von unten angreifen, einen entscheidenden Vorteil: Vor einem reich strukturierten Hintergrund sind sie für das Beutetier schwer zu erkennen. Vor einem hellen Himmel – der Perspektive der Angreiferin – ist dagegen auch eine kleine Fliege gut sichtbar. Zumal der dorthin gerichtete Teil des Libellenauges ein besonders scharfes Bild liefert.

Dank ihres eigenartigen Flugstils haben aber auch nichtsahnende Fruchtfliegen noch eine Chance zu entkommen: Gewöhnlich fliegen sie nämlich nie lange geradeaus, sondern ändern immer wieder ihren Kurs. Dieses merkwürdig ziellose Herumkurven ist nicht nur eine effiziente Methode, um nach Futter zu suchen oder nach einem paarungswilligen Partner. Wenn der Zufall es will, schlagen die unberechenbaren Fliegen auch gerade zur rechten Zeit einen Haken und lassen die zielstrebig herbeistürmende Libelle ins Leere greifen.

Ob die Libellen bei der Fruchtfliegenjagd erfolgreich waren, hing jedoch nicht bloß vom Zufall ab. Die Erfolgsquote erhöhte sich, wenn die Forscher mehr Fliegen freiließen, also mehr potentielle Opfer in Reichweite brachten. Aus den Filmaufnahmen lässt sich ablesen, warum die Libellen dann bessere Chancen hatten: Im Durchschnitt gingen die Fruchtfliegen, hinter denen sie her waren, weniger scharf in die Kurve, und ihre Wendemanöver fielen gleichförmiger aus. Bei entsprechender Auswahl können die Libellen offenbar recht genau abschätzen, wo besonders leichte Beute winkt.

Als Mahlzeit auserkoren, hat eine Fruchtfliege schlechte Aussichten, mit dem Leben davonzukommen. Für die angreifenden Libellen steht viel weniger auf dem Spiel. Allerdings gehen sie bei jedem Jagdausflug ein gewisses Risiko ein, von Jägern zu Gejagten zu werden und beispielsweise einem hungrigen Vogel zum Opfer zu fallen. Außerdem bedeutet jede missglückte Jagd einen Verlust statt einen Gewinn von Stoffwechselenergie. Wenn Libellen aus ihrer Larvenhaut schlüpfen, bringen sie so gut wie keine Reserven mit. Wie viel Energie sie in die Produktion von Nachwuchs investieren können, hängt deshalb von ihrem Jagdglück ab.