Familie

Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt

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Sie führen Protokoll, wenn andere ihr Leben bilanzieren: Ein Forscher aus Dresden und eine Künstlerin aus Australien versuchen, den Tod zu entmystifizieren.

Anfangs dachte Andreas Hanses, dass er sicher Taschentücher brauchen würde. Taschentücher und Psychologen. Gar gleich eine psychologische Betreuung für seine beiden Mitarbeiterinnen? Bis jetzt aber war es immer anders. Statt der Taschentücher liegen nun Kekse auf seinem Tisch, und Hanses’ Mitarbeiterinnen greifen zu.

Andreas Hanses: gestutzter Oberlippenbart, Halbglatze, Lachfältchen, ist Professor für Erziehungswissenschaften an der TU Dresden. Er hat sich vorgenommen, das Sterben zu erforschen. Er will herausfinden, wie todkranke Menschen am Ende ihres Lebens auf ihre Biografie zurückblicken. Und wie wohl sie sich noch fühlen können, im Hospiz oder im Krankenhaus oder zu Hause. 78 Interviews haben seine Mitarbeiterinnen schon geführt, mit Sterbenden und auch mit Pflegekräften.

Die Studie, sagt Hanses, ist Grundlagenforschung. Es gebe kaum Erkenntnisse, auf die er sich beziehen könne, kaum Wissenschaftler, die sich mit den Sterbenden auseinandersetzen. Hanses kann das verstehen: Man forscht lieber zu Problemen, für die es später mal eine Lösung geben könnte.

Der Versuch, das Sterben zu entmystifizieren

Früher hat er selbst mal Frauen befragt, die an Brustkrebs leiden. Wie sie sich fühlen, wollte er wissen. Viele Frauen kamen sich entmündigt vor, fand er heraus. Offenbar war die medizinische Behandlung so sehr durchgeplant, dass wenig Zeit blieb für ausgeruhte Entscheidungen und selten der Mut, Zweifel zu äußern. Ausgeliefert kamen sich die Frauen vor, mit denen er sprach.

Wie muss es nur denen gehen, die unheilbar krank sind, die definitiv bald sterben werden?, dachte Hanses damals – und dann schrieb er ein Forschungskonzept. Seine Studie ist der Versuch, das Sterben zu entmystifizieren. Sie passt in diese Zeit.

Längst wird nicht mehr nur in Gesundheitssendungen, sondern auch an deutschen Stammtischen über Organspende-Ausweise und Patientenverfügungen diskutiert. Voriges Jahr widmete die ARD dem Tod gleich eine ganze Themenwoche. In den Bestsellerlisten hält sich seit Wochen John Greens Jugendroman „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“- erzählt wird darin die Liebesgeschichte von zwei unheilbar kranken Jugendlichen. Und gar die Hälfte aller jungen Menschen – zwischen 18 und 29 Jahren – denkt laut einer Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes regelmäßig über den eigenen Tod nach.

Über den Tod wird wenig geredet

Deutschland spricht über das Sterben. Nur die Sterbenden selbst – die tun es selten. Das zumindest ist eine erste Erkenntnis aus Andreas Hanses’ Studie. „Kranke mit einer Heilungschance reden über ihre Krankheit. Unheilbar Kranke reden über ihr Leben“, sagt der 54 Jahre alte Wissenschaftler. Manchmal saßen seine Mitarbeiterinnen sechs Stunden an einem Krankenbett, hörten dem Patienten zu, ließen das Aufnahmegerät laufen. Sechs Stunden – und kaum ein Wort über den nahenden Tod. „Die Sterbenden berechnen ihr Leben neu“, sagt Hanses, „sie trauern nicht, sie erzählen.“

Er klingt erleichtert, wenn er das sagt. Die Frage ist, wem seine Studie einmal nutzen könnte. Dem Pflegepersonal zum Beispiel, glaubt Hanses. Nicht umsonst fahren seine Mitarbeiterinnen in verschiedene Einrichtungen – in Hospize und in Krankenhäuser und zu ambulanten Pflegediensten. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wo sich Sterbende am wohlsten fühlen, wie man sie versorgen sollte.

Eines etwa unterscheidet todkranke Patienten von den anderen: Sie schimpfen kaum auf Ärzte oder Pflegekräfte, sie suchen keinen Schuldigen mehr. „Es gibt keinen Arzt, auf dessen Wort sie sich die kommenden fünf Jahre verlassen, dessen Befunde sie abwarten müssen“, sagt Hanses. „Das befreit sie weit mehr, als ich es erwartet hätte.“ Allerdings brauchen die Patienten eine besondere Ruhe – die sie in Kliniken selten bekommen. Krankenhäuser seien dazu da, Menschen zu retten, zu heilen. Der Tod sei hier ein Unfall, so Hanses, anders als im Hospiz. „Wir dürfen sterben lassen“, sagt eine Hospiz-Leiterin, die für die Studie befragt wurde.

Umgebung ist für Todkranke entscheidend

Wie entscheidend die Umgebung für die Überlebenszeit selbst Todkranker sein kann, das zeigt eine Geschichte, die jene Hospiz-Mitarbeiterin erzählt. Es ist die Geschichte einer Frau, die zum Sterben aus ihrer Wohnung aus- und ins Hospiz eingezogen ist. Die gesagt hatte, sie wolle ihre letzten Wochen versuchen zu genießen. „Und dann starb sie nicht“, erzählt die Hospizleiterin – zumindest starb die Frau nicht gleich. Also kündigte der Medizinische Dienst der Krankenkassen seinen Besuch an – um zu prüfen, ob die Patientin im Hospiz richtig aufgehoben sei. Acht Wochen, so entschieden die Gutachter, dürfe die Frau noch dableiben. Danach müsse sie verlegt werden. Die Patientin wurde schwächer. Zwei Tage vor der geplanten Entlassung starb sie.

Hanses’ Forschung dauert bislang zweieinhalb Jahre, sie wird gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Wenn er seinen Verlängerungsantrag bewilligt bekommt, dann wird er noch bis 2015 mit den Interviews beschäftigt sein. Eventuell wird er dann einen Leitfaden entwickeln – darüber, wie es die Todkranken der Zukunft noch besser haben könnten. Seine Forschung ist ein Dienst an den Sterbenden.

Bronnie Ware hat etwas Ähnliches getan wie Hanses: Auch sie ist eine Chronistin des Todes, auch sie hat jahrelang Sterbenden zugehört. Nur will Ware etwas ganz anderes als der Forscher: Sie will, dass die Gesunden glücklicher werden. Ihre Arbeit als Künstlerin ist ein Dienst an den Lebenden.

Ware: rundes Gesicht, lange braune Haare, Locken, hat acht Jahre lang Todkranke gepflegt. Das hat sie verändert, sagte sie. „Erst die Sterbenden haben mir gezeigt, wie ich leben sollte.“ Nun hat sie ein Buch geschrieben über ihre Zeit als Palliativpflegerin. Das neue öffentliche Interesse am Sterben machte nun ausgerechnet sie, eine zuvor mittellose Australierin, zu einer wohlhabenden Frau.

“5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“, heißt ihr Werk. Vor einem Jahr schaffte es Ware damit in die deutschen Medien – obwohl es damals nur in englischer Sprache erhältlich war. Inzwischen ist es in 26 Sprachen übersetzt worden, die deutsche Fassung ist gerade in die Läden gekommen. „Offenbar kam meine Botschaft zur richtigen Zeit“, sagt die Autorin, aber, ja, gewundert habe sie sich auch über das große Interesse an ihren im Grunde simplen und traurigen Geschichten.

Umgedrehter Lebenslauf

Bronnie Wares Lebenslauf ist einer von denen, die aussehen, als seien sie falsch herum aufgeschrieben. Erst arbeitete sie in einer Bank, trampte dann auf eine Insel, mixte Cocktails an der Bar, zapfte Bier in einer englischen Kneipe, verkaufte am Telefon Abos eines Pornokanals. Schließlich beschloss Ware, so viel wie möglich als Musikerin zu arbeiten, doch dafür fehlte ihr das Geld. Zumindest ein sozialer Beruf müsse es sein, entschied sie. Und Miete wollte sie auch keine zahlen.

So landete Ware bei einem Pflegedienst, dieser schickte sie in die Wohnung einer kranken Frau. Ware sollte die Patientin versorgen, dafür konnte sie bei ihr schlafen. Die Frau starb, Ware zog beim nächsten Patienten ein, und so blieb sie acht Jahre lang die Pflegerin von Todkranken.

Dass die Australierin heute von ihrer Kunst leben kann, hat sie im Grunde einem einzigen Blogeintrag zu verdanken: „Was Sterbende bereuen“, schrieb sie in der Überschrift. Ware veröffentlichte den Text vor einigen Jahren auf ihrem bis dahin recht unbekannten Blog, er verbreitete sich im Netz, wurde Millionen Male angeklickt. Ein Verlag wurde darauf aufmerksam – darum hat Ware aus den ursprünglich 792 Wörtern 352 Seiten gemacht. Die Australierin erzählt darin die Geschichten ihrer früheren Patienten. Struktur dafür geben die fünf am häufigsten unerfüllt gebliebenen Wünsche ihrer Ex-Patienten:

  • Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.
  • Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
  • Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
  • Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.
  • Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.

Nur etwa 30 Prozent der Menschen würden nichts bereuen am Ende ihres Lebens, sagte Ware. „Um zu dieser Minderheit zu gehören, kann ich nur empfehlen, die fünf Punkte zu beherzigen.“