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Amerikaner zieht es nach Europa

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Nach Jahren der Abstinenz kaufen große Anleger aus den Vereinigten Staaten wieder europäische Aktien. Das könnte den Aufwärtstrend in Europa stärken.

Amerikanische Profi-Anleger gewinnen nach Jahren der Abstinenz das Vertrauen in europäische Aktien zurück. „Wir haben in den vergangenen Quartalen einen bedeutenden Anstieg von Käufen europäischer Aktien durch Investoren aus den Vereinigten Staaten beobachtet“, schreiben die für Europa verantwortliche Marktstrategin Sharon Bell von der Investmentbank Goldman Sachs und mehrere ihrer Kollegen in einem aktuellen Marktkommentar. Zwar seien die Zuflüsse im Vergleich zum gesamten Börsenwert europäischer Aktien gering. Allerdings korrelierten solche Investitionen mit der Entwicklung der Aktienkurse. Der Zusammenhang sei in den vergangenen zehn Jahren zudem stärker geworden.

Die Marktstrategen von Goldman Sachs rechnen auf Sicht von 12 Monaten daher mit weiteren Kursgewinnen für den breit gefassten Aktienindex Stoxx Europe 600 von mehr als 15 Prozent auf 350 Punkte. Der Stoxx Europe 600 liegt in diesem Jahr bereits mit rund 9 Prozent im Plus. Für das europäische Standardwertebarometer Stoxx Europe 50 unterstellen die Analysten im gleichen Zeitraum ein Gewinnpotential von knapp 15 Prozent auf 3150 Zähler. Im Stoxx Europe 50, der seit Anfang des Jahres um knapp 6 Prozent gestiegen ist, sind große deutsche Aktiengesellschaften wie der Versicherer Allianz, der Autohersteller Daimler oder der Technologiekonzern SAP vertreten.

Amerikanische Investoren in Europa unterinvestiert

Zwischen Januar und Mai dieses Jahres haben amerikanische Investoren europäische Aktien im Wert von mehr als 65 Milliarden Dollar erworben. Im Juni gab es nach Angaben des amerikanischen Finanzministeriums zwar vergleichsweise leichte Abflüsse von 800 Millionen Dollar. Das war aber nicht genug, um den allgemeinen Aufwärtstrend zu brechen. Institutionelle amerikanische Investoren, darunter Pensionskassen und Versicherer, hatten ab Ende 2008 fast vollständig aufgehört, europäische Aktien zu kaufen. Kurz davor hatte die Finanzkrise mit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers ihren Höhepunkt erreicht.

Im Vergleich zu den Anlagetrends vor der Finanzkrise sind amerikanische Investoren nach Einschätzung von Goldman Sachs in Europa derzeit unterinvestiert. Allerdings sei es keine ausgemachte Sache, dass Anleger den Abstand wieder aufholen werden. „Märkte in Schwellenländern wachsen und reifen, und die könnten die steigenden Summen internationaler Investitionen der Amerikaner aufnehmen“, heißt es in der Studie. Bestimmt werden die Anlagen in Europa ohnehin nicht von „vorher festgelegten Zielen“, sondern von der aktuellen Einschätzung der Risiken. Dazu gehören Kursschwankungen, die sogenannte Volatilität, oder die Renditeabstände von Staatsanleihen europäischer Länder im Vergleich zu als sicher geltenden deutschen Bundesanleihen. Da die europäische Staatsschuldenkrise in diesem Jahr an Brisanz verloren hat, haben sich die Renditeabstände italienischer, spanischer, portugiesischer und irischer Staatsanleihen gegenüber Bundesanleihen wieder verengt.

Privatanleger folgen den Profis

Marktteilnehmer gehen also von geringeren Risiken für diese Länder aus. Das geht einher mit dem wachsenden Interesse amerikanischer Investoren an europäischen Aktien. Kaum Einfluss auf die Anlageentscheidungen der Amerikaner scheinen dagegen die Entwicklung des Wirtschaftswachstums im Euroraum oder die individuellen Bewertungen der Aktien zu haben. Die Analysten von Goldman Sachs halten die immer noch günstige Bewertung europäischer Aktien zusammen mit deren Potential für Gewinnwachstum allerdings für die wichtigste Zugnummer in den kommenden Jahren. Auch die Aktienstrategen der britischen Großbank HSBC rechnen mit überraschend starkem Gewinnwachstum europäischer Aktiengesellschaften. Trotz seiner jüngsten Erholung halten die Fachleute von HSBC den europäischen Aktienmarkt im Vergleich zum langfristigen Durchschnitt um 15 Prozent unterbewertet.

Auch amerikanische Privatanleger haben in diesem Jahr verstärkt in internationale Aktien investiert. Nettozuflüsse in amerikanische Investmentfonds, die im Ausland investieren, sind seit Januar deutlich stärker gestiegen als Anlagen in Fonds, die im Heimatmarkt investieren. Das geht aus Daten des Fondsverbands ICI hervor. Der ICI unterscheidet allerdings nicht zwischen Anlagen in Europa und dem sonstigen Ausland. Von der Finanzkrise und den damaligen Kursverlusten geschockte Privatanleger in den Vereinigten Staaten haben überhaupt erst in diesem Jahr wieder die Aktie entdeckt. In den vergangenen Jahren hatten sie bevorzugt Investmentfonds gekauft, die in festverzinsliche Papiere investieren. Seit einigen Monaten wendet sich diese Anlegergruppe aber von Rentenfonds ab, weil der jüngste Renditeanstieg am Anleihemarkt zu Verlusten in diesem Marktsegment geführt hatte.