Mensch & Gene

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Das Aussehen von Bewerbern und deren nonverbales Auftreten überzeugen Jurys bei Musikwettbewerben mehr als der Klang der Musik, ergibt eine Studie des University College London.

Man hat es eigentlich immer geahnt, und zum Schulanfang, der in neun Bundesländern schon begangen wurde und in Sachsen und Thüringen unmittelbar bevorsteht, sollte man sich dem umstrittenen Thema einmal ausführlich und wissenschaftlich fundiert widmen: Das Aussehen eines Prüfungskandidaten und die nonverbalen Signale, die von ihm ausgehen, scheinen, so ist es zumindest einer Studie von Chia-Jung Tsay vom University College London zu entnehmen, mehr als alles andere darüber zu entscheiden, wie die Bewertung ausfällt. Untersucht wurde diese These schon vor zwanzig Jahren von Harvard-Forschern. Damals wurde sie am Beispiel angehender Lehrer belegt. Die Wissenschaftler zeigten Probanden Videoausschnitte vom Unterricht der Referendare, die nur wenige Sekunden dauerten. Die Versuchsteilnehmer hatten in dem winzigen Moment nur die äußere Erscheinung und einige nonverbale Signale wahrnehmen können – und doch konnten sie anschließend zuverlässig vorhersagen, wie sowohl die Schüler als auch die Supervisoren der jungen Lehrer die Kandidaten am Ende des Schuljahres evaluieren würden.

Chia-Jung Tsay nun weist in den amerikanischen „Proceedings of the National Academy of Sciences“ Jurys von Musikwettbewerben dieselbe Verführbarkeit durch optische Reize nach. Visuelle Charakteristika des Auftritts sind für das Abschneiden der jungen Musiker entscheidender als die musikalische Qualität ihres Vortrags – das ist die Bilanz der Studie, für die Probanden sich Videos mit Ton, Videos ohne Ton und Audiomitschnitte von zehn renommierten internationalen Wettbewerben für klassische Musik ansahen. Sowohl professionelle Musiker als auch Laien nahmen an dem Versuch teil. Ihre Aufgabe war es einzuschätzen, welcher von drei Finalisten wohl von einer Expertenjury zum Sieger des Wettbewerbs gekürt worden war.

Akkurates Urteil

Die Probanden konnten die Jury-Entscheidung anhand der Videos ohne Ton am akkuratesten vorhersagen – wenn sie also das Musikstück gar nicht hörten, sondern nur den Kandidaten beim Spiel betrachteten. Ihr Urteil war nicht mehr so genau, wenn das Video zusätzlich von der gespielten Musik unterlegt wurde oder sie sich nur die Musik vom Tonband anhörten – ein Ergebnis, das am Image der klassischen Musik kratzt, die für ihre Talentschmieden immer in Anspruch genommen hat, besonders unbestechlich zu sein. Es sei beunruhigend, dass Musiker selbst, ohne es zu wissen, den Sound der Musik in die Rolle eines bloßen Geräusches zurückstufen, schreibt Chia-Jung Tsay in einem Fazit. Ein kritisches Urteil, das durch die Ergebnisse der Studie Substanz besitzt und vielleicht auch durch die Biographie der Forscherin selbst inspiriert ist: Die Psychologin, die in Harvard studierte, war selbst Pianistin und trat schon mit sechzehn Jahren in der Carnegie Hall auf.