Wenn Eltern ihr erst wenige Wochen altes Baby operieren lassen müssen, ist das ein schwerer Schritt. Doch die moderne Kinderchirurgie ist heute zu Erstaunlichem fähig. Zum Beispiel im Fall des kleinen Matti.
Seit knapp 15 Minuten liegt Silke Hank* nun schon in dem brummenden Kernspintomographen in der Tübinger Uniklinik. Die Schnittbilder, die das gewaltige ringförmige Gerät von ihrem Oberkörper macht, können die Ärzte, die in einem abgedunkelten Raum hinter einer Glasscheibe sitzen, sofort auf ihren Computerbildschirmen sehen. Eigentlich sollte die Untersuchung gar nicht so lange dauern, aber Radiologe Jürgen Schäfer benötigt weitere Aufnahmen. Auf den bisherigen Bildern kann er die Luftröhre noch nicht richtig erkennen. Zu sehr zappelt der kleine Mann im Bauch der Mutter umher, sieht der Arzt beim Blick auf den Bildschirm.
Hank ist im achten Monat schwanger. Ihr ungeborener Sohn hat einen Lungensequester. Dieses Lungengewebe, das nicht an die Lunge angeschlossen, sondern unabhängig davon im Brustkorb des Ungeborenen wächst, wurde bei einer Ultraschalluntersuchung entdeckt. Die wenigen Zentimeter Lunge am falschen Ort sind nicht funktionsfähig und führen bei Matti, wie Hanks Sohn einmal heißen soll, zu keinen Beschwerden. Er entwickelt sich ganz normal. Nichts Auffälliges konnte ihr Frauenarzt bisher entdecken. Und trotzdem: Hank, ihr Ehemann und die Ärzte wollen die Sicherheit, dass Matti neben dem Sequester nicht noch andere Fehlbildungen an der Lunge hat, dass sich Herz und Blutgefäße richtig entwickeln und das Stückchen Lunge nicht den Blutkreislauf behindert, aber vor allem dass die Luftröhre durchgängig ist.
Eine satte Mutter hält das ungeborene Kind bei Laune
Je länger die Untersuchung im Kernspintomographen dauert, desto schwieriger wird es für die Kinderradiologen, aussagekräftige Bilder zu erhalten. „Das Gerät ist sehr laut, da wird das Ungeborene unruhig und beginnt zu zappeln“, sagt Schäfer. Der beste Trick, das Kind möglichst lange bei Laune zu halten, „ist eine satte Mutter. Dann nämlich ist auch das Kind nicht hungrig, sondern müde und träge.“ Doch Silke Hank hat nur gefrühstückt. Matti ist schneller als das Gerät. Kaum erahnen die Ärzte das Organ, hat sich Matti schon gedreht. Nach über zwanzig Minuten erblickt Kinderradiologe Schäfer auf dem Bildschirm endlich, was er sucht: einen wenige Millimeter großen weißen Kreis, die Luftröhre. Er ist zufrieden und Mutter Hank erleichtert. Auf den Aufnahmen sind keine weiteren Auffälligkeiten zu erkennen.
Die Untersuchung im Kernspintomographen sollte aber nicht nur Sicherheit bringen- sie ist auch schon Teil der Operationsvorbereitung. Matti soll nämlich gleich in den ersten Wochen nach seiner Geburt operiert, das Stückchen Lunge vom falschen Ort entfernt werden. Ein solcher Lungensequester ist per se nicht gefährlich, das bestätigt Schäfer Silke Hank im Gespräch, aber das abgekapselte Gewebe kann, wenn es wächst, das Lungenvolumen einschränken, weil es der Lunge Platz wegnimmt. Es kann bei besonderen Mischformen im Laufe des Lebens entarten oder zu gehäuften Infekten führen. Früher, ohne moderne Diagnostik, hat man solche Fehlbildungen nicht entdeckt- da haben auch Erwachsene noch mit einem Sequester gelebt. Heute aber entspricht es dem Standard, die Kinder bald nach der Geburt zu operieren.
Aufnahmen aus dem Mutterleib sind eine gute Orientierung
Alle Aufnahmen, welche die Ärzte schon vor der Geburt von dem kleinen Körper haben, müssen sie danach nicht noch einmal machen. „Legt man Säuglinge in einen Kernspintomographen, muss man sie betäuben“, erläutert Schäfer. „Das will man vermeiden, genauso wie die Strahlenbelastung von Röntgenuntersuchungen.“ Aufnahmen aus dem Mutterleib seien häufig eine gute Orientierung- wenn man Glück habe, müsse man vor der Operation nur noch eine Ultraschalluntersuchung machen.
Rund fünf Prozent der Kinder in Deutschland kommen mit einer Fehlbildung zur Welt. Am häufigsten leiden sie unter Herzfehlern, gefolgt von Missbildungen an Magen und Darm, Armen und Beinen sowie an Nieren, Harnleiter und Genitalien. Etwa eins von 20 000 Kindern wird mit einer Lungenfehlbildung geboren. „Noch in den sechziger Jahren sind fast 80 Prozent der Kinder mit solchen Fehlbildungen gestorben“, sagt Jörg Fuchs, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie. „Heute haben wir es durch viele Weiterentwicklungen und Spezialisierungen in der Kinderchirurgie geschafft, dass 95 Prozent der Kinder überleben.“
Silke Hank hat in der 21. Schwangerschaftswoche erfahren, dass Matti nicht gesund ist. „Das war natürlich ein Schock, aber mein Frauenarzt hat mir alles genau erklärt und mich sehr gut beraten.“ Sorgen blieben trotzdem. Besonders große Angst habe sie vor der Operation und ihren Risiken. „Den kleinen Kerl einige Wochen nach der Geburt abgeben zu müssen, da graut es mir vor“, sagt die großgewachsene Frau und streichelt dabei über ihren runden Bauch, als wolle sie sagen, wir schaffen das schon.
Die ersten Tage auf der Intensivstation
Hank geht offen mit der Fehlbildung um. Wenn Leute sie fragen, wie die Schwangerschaft verläuft, ist sie ehrlich: „Ganz gesund ist er nicht.“ Ein Geheimnis um einen solchen Befund zu machen, das ist nicht ihre Art. Die Achtunddreißigjährige ist ein nüchterner Typ, der die Situation so annehmen kann, wie sie ist. Seit der Diagnose fährt Hank alle zwei Wochen für Untersuchungen aus der Nähe von Stuttgart nach Tübingen. Matti soll nämlich, wenn alles nach Plan läuft, in der Tübinger Uniklinik zur Welt kommen. Dort gibt es ein Team von Kinderärzten und Kinderchirurgen, die im Notfall eingreifen können. Bei Matti spricht zwar nichts dafür, dass er aufgrund der Fehlbildung nach der Geburt nicht richtig Luft bekommt oder das Herz nicht arbeitet- aber hundertprozentig können die Ärzte dies auch nach der Untersuchung im Kernspintomographen nicht ausschließen.
Wann genau der Geburtstermin ist, will Radiologe Schäfer am Ende des Gespräches noch wissen. „In sieben Wochen“, sagt Hank, „aber ich habe im Gefühl, er wird früher kommen.“
Silke Hank soll recht behalten. Rund vierzehn Tage vor dem geplanten Termin platzt bei ihr die Fruchtblase. Da sie liegen muss, geht es mit Rettungswagen, Martinshorn und Vollgas über die Autobahn nach Tübingen, ihr Mann im Auto hinterher. Als sie im Kreißsaal der Uniklinik ankommt, ist alles schon vorbereitet. „Viel mehr Menschen als bei der Geburt meines ersten Sohnes standen bereit“, wird Hank später erzählen. Kinderärzte, Hebammen und Gynäkologen. Die Geburt verläuft schnell und problemlos, nach zwei Stunden ist Matti da. Hank und ihr Ehemann dürfen aber nur einen kurzen Blick auf ihn werfen, dann wird er untersucht, gründlicher und länger als andere Kinder. Seine ersten Tage verbringt Matti zur Beobachtung auf der Intensivstation, eine Vorsichtsmaßnahme. Die Ärzte wollen sicher sein, dass die Atmung reibungslos funktioniert.
Zeit zwischen Geburt und Operation
Doch Matti gibt keinen Grund zur Sorge. Er holt ausreichend Luft, hat keine Atemaussetzer, nach drei Tagen darf er nach Hause. „Alles bestens“, sagen die Ärzte. Doch die pure Freude will bei Hanks nicht richtig aufkommen. Denn mit dem Tag der Entlassung beginnt „die Zeit dazwischen“, wie Silke Hank sagt, die Zeit zwischen der Geburt und der Operation.
Nach ersten Planungen soll sie zwölf Wochen dauern. In dieser Zeit ist kein Tag wie der andere. Ein Auf und Ab. Die Familie lebt ihren neuen gemeinsamen Alltag, aber der Operationstermin schwirrt immer im Hinterkopf. Gerade nachts beim Stillen macht sich Silke Hank über alles Gedanken, bis hin zu der Vorstellung, wie sie Mattis Beerdigung planen würde, falls etwas schiefläuft.
Taufe, Babyschwimmen, Eltern-Kind-Gruppe – alles wird auf die Zeit danach verschoben. Jeder Huster von Matti bringt Hank in Alarmbereitschaft. „Mir ist vollkommen bewusst, dass es Kinder gibt, die sehr viel schlimmer krank sind. Eltern, die viel größere Sorgen haben. Aber dieser Operationstermin schwebte über uns. Jede Zeitrechnung spaltet sich auf in davor und danach“, wird Hank sich erinnern. Kurz vor dem Termin fängt sich Matti einen Infekt ein. Die Operation muss um sechs Wochen verschoben werden, „die Zeit dazwischen“ qualvoll verlängert, Hanks Nervenkostüm auf die Probe gestellt.
„Irgendwie war klar, nun gibt es kein Zurück mehr.“
Einen Tag vor dem Eingriff bringt Hanks Ehemann Matti und seine Frau in die Kinderchirurgie der Tübinger Uniklinik. Dort wird der Säugling noch einmal von oben bis unten durchgecheckt. Schnupfen, Husten, erhöhte Entzündungswerte im Blut oder Fieber würden eine Operation unmöglich machen. Als einen „Tag zum Ankommen“ beschreibt Hank später die vierundzwanzig Stunden vor dem Eingriff in der Klinik. „Irgendwie war klar, nun gibt es kein Zurück mehr.“ Alles war entschieden, alle Einwilligungserklärungen waren unterschrieben. „Das nahm einem schon etwas vom Druck.“
Doch ein solcher „präoperativer Tag“, wie es im Fachjargon heißt, ist keineswegs selbstverständlich. Seit rund einem Jahr zahlen die Krankenkassen nur noch in Ausnahmefällen den Aufenthalt in der Klinik schon einen Tag vor der Operation. Geht es nach den Kassen, dürfen Kinder erst am Morgen der Operation ins Krankenhaus kommen, nüchtern bitte.
Matti gehört nicht zu den Ausnahmefällen. Doch wie viele andere Kinderkliniken hält Tübingen einen solchen Tag nicht für entbehrlich und zahlt die Kosten aus eigener Tasche. „Ihn wegfallen zu lassen ist für die Familien eine Zumutung und medizinisch nicht zu verantworten“, sagt Fuchs, der auch Direktor des kinderchirurgischen Zentrums in Tübingen ist. Der Umgang mit den Kleinsten und ihren Eltern fordere mehr Zeit und Geduld als der Umgang mit Erwachsenen. Klinikaufenthalte ängstigten Kinder oft, da sei eine gute psychosoziale Einbindung vonnöten.
Drei mal drei Millimeter große Schnitte
Gegen acht Uhr am Morgen geben Hanks ihren Sohn an der Schleuse zu den Operationssälen in die Arme der Anästhesisten. „Das war der schlimmste Moment“, wird Hank später sagen. Ihr sei richtig schlecht geworden. Mit anzusehen, wie das eigene hilflose Kind hinter den schweren Türen verschwindet, habe sie fast nicht ausgehalten. „Er hat uns angelächelt beim Wegtragen, als wollte er uns beruhigen.“
Während Mattis Eltern bei Kaffee aus dem Automaten in der schlichten Cafeteria sitzen, sich gegenseitig beruhigen, immer wieder auf die Uhr schauen und einfach erzählen, um irgendwie die quälende Zeit totzuschlagen, beginnen die Kinderchirurgen mit den ersten Schnitten.
Früher mussten die Ärzte für diese Art von Eingriff einen vier bis fünf Zentimeter großen Schnitt am Thorax der Säuglinge machen. Doch seit einigen Jahren ist ein minimalinvasives Verfahren Standard. Den Kinderchirurgen reichen drei mal drei Millimeter große Schnitte im Thorax, durch die sie winzige Geräte wie Kamera, Greif- oder Schneideinstrumente in den kleinen Oberkörper einführen können. Dieser ist mit Kohlendioxid aufgebläht, damit die Ärzte in dem engen Brustkorb besser arbeiten können. Auf so kleinem Raum ohne direkte Sicht nur mit Blick auf den Bildschirm zu operieren ist eine Kunst. Erfahrungen aus der minimalinvasiven Chirurgie bei Erwachsenen sind nur begrenzt auf Kinder und Neugeborene übertragbar.
Geringerer Schmerzmittelbedarf
„Die Schlüssellochtechnik hat mehrere Vorteile für den Säugling“, sagt Kinderchirurgen-Präsident Fuchs. Durch die kleineren Wunden seien die Narben, die ein Leben lang blieben, kosmetisch fast nicht sichtbar. „Wundheilungsstörungen treten seltener auf. Es kommt nicht mehr zu Verschmelzungen der Rippen mit einer daraus entstehenden Verkrümmung der Wirbelsäule.“ Auch der postoperative Schmerzmittelbedarf sei deutlich niedriger als bei konservativen Verfahren, und der kleine Patient könne meist schneller wieder entlassen werden.
In der Kinderchirurgie der Tübinger Uniklinik werden jedes Jahr etwa 600 Eingriffe bei Kindern minimalinvasiv operiert. Ein Sequester wie bei Matti kommt darunter etwa fünfmal vor, ein seltener Fall. Das Schlüssellochverfahren kann in allen Altersstufen und bei einer Vielzahl von Operationen angewendet werden, bei Notfällen auch schon kurz nach der Geburt.
Bei dem Sohn von Hanks läuft die Operation planmäßig. Der kleine Körper, Lunge und Herz verkraften die Narkose gut. Nach zweieinhalb Stunden nähen die Chirurgen die Wunden zu. Matti hat es geschafft und seine Eltern auch. Per Telefon erhalten sie die erlösende Nachricht: Matti geht es gut. Hanks dürfen ihren Sohn kurz auf der Intensivstation besuchen. Noch ist Matti intubiert, „Überall aus seinem Körper kamen Schläuche“, wird Hank sich erinnern. Ein Anblick, an den sie sich erst gewöhnen musste. „Aber er hat friedlich geschlafen. Das hat mich beruhigt.“
„Die Erinnerungen verdeutlichen, wie gut es einem geht.“
Matti geht es schon einen Tag nach dem Eingriff erstaunlich gut. Er kann ohne Unterstützung Luft holen und braucht keine Magensonde mehr. Von Tag zu Tag werden es weniger Schläuche, die den kleinen Körper bei der Arbeit unterstützen. In der Zeit nach der Operation findet Silke Hank Zeit, auch mit den anderen Eltern der Station ins Gespräch zu kommen. Man ist dort vierundzwanzig Stunden am Tag beieinander, „da wächst man zusammen und merkt, dass alle in einem Boot sitzen, aber jeder anders mit der Situation umgeht“.
Schon nach vier Tagen dürfen Mattis Vater und sein großer Bruder Tim den Rest der Familie aus der Klinik abholen. Dem Dreijährigen hatten Hanks vorher von der Operation nichts erzählt, um ihm keine Angst zu machen. Er war die vergangenen Tage bei den Großeltern. Beim Abholen seines kleinen Bruders bekommt Tim ein Bilderbuch über die Arbeit im Krankenhaus geschenkt. Es erzählt von Kindern, die in der Tübinger Uniklinik behandelt und operiert werden, davon, was sein Bruder die Tage zuvor erlebt hat.
Mattis zweite Geburt, wie Silke Hank im Nachhinein den Tag der Operation beschreibt, beschäftigt die Familie auch Wochen nach der Entlassung noch. „Die Eindrücke und Gefühle, aber auch die Schicksale der anderen Familien, die man in der Klinik kennengelernt hat, sind noch immer präsent“, sagt sie. „Die Erinnerungen verdeutlichen einem aber auch, wie gut es einem geht.“ Das Bilderbuch über den Alltag im Krankenhaus ist in kürzester Zeit Tims Lieblingsbuch geworden. Immer wieder blättert der Dreijährige die Seiten durch und stellt viele Fragen. Länger hängen bleibt er meist auf der letzten Seite. Es ist seine Lieblingszeichnung. Darauf zu sehen: der Tag der Entlassung – als das kranke Mädchen Lea aus der Geschichte von ihrer Familie aus der Klinik abgeholt wird.