Die Gegenwart

Gottes Hand in Gettysburg

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Der Sieg in der entscheidenden Schlacht des amerikanischen Bürgerkriegs im Juli 1863 führte Präsident Abraham Lincoln zu der Überzeugung, dass es die göttliche Mission seines Landes sei, auf Erden Demokratie und Freiheit zu verbreiten.

Ob Abraham Lincoln Christ war oder nicht, ist umstritten. Jedenfalls trat Lincoln nie einer Kirche bei. Viel spricht dafür, dass Lincoln weder als junger Mann noch als gereifter Politiker und auch nicht als Präsident zum kanonischen Dreifaltigkeitsglauben der maßgeblichen christlichen Konfessionen und Denominationen gefunden hat. Während seiner Kindheit und Jugend in den ländlichen „Frontier“-Gebieten in Kentucky und Illinois, später während seiner Tätigkeit als Anwalt in New Salem und in Springfield, schließlich in seinen letzten Lebensjahren im Weißen Haus in Washington besuchte Lincoln die Gottesdienste verschiedener Prediger, ohne je einer Kirche formal beizutreten.

Jesse Fell, einflussreicher Jurist und Publizist aus Bloomington, der von 1850 an zu dem seinerzeit schon hoch angesehenen und recht vermögenden Rechtsanwalt Lincoln in Springfield in freundschaftlicher Beziehung stand, beschrieb die Glaubensgrundlage des späteren Präsidenten mit folgenden Worten: Lincoln habe „an die Vaterschaft Gottes und an die Bruderschaft der Menschen“ geglaubt. Lincoln selbst sagte über sich, er sei „lebenslang Fatalist“ gewesen. Seine persönliche Prädestinationslehre, geprägt von seiner calvinistisch-baptistischen Erziehung, fand er am besten in jener Einsicht ausgedrückt, die der von ihm so verehrte Dichter Shakespeare dem dänischen Prinzen Hamlet in den Mund gelegt hatte: „Dass Gottes Weisheit unsre Zwecke formt, / Wie grob wir sie auch zugehaun.“

Lincolns Glaube an eine göttliche Vorsehung wurde während seiner Präsidentschaft und vor allem während des Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 auf eine schwere Probe gestellt – und zugleich gefestigt. In den „Meditationen über Gottes Willen“, die Lincoln in den Jahren 1863 und 1864 im Weißen Haus verfasste und die nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, heißt es: „In großen Kämpfen erhebt jede Seite den Anspruch, dem Willen Gottes zu entsprechen. Beide Seiten können recht haben, eine Seite muss sich irren. Gott kann nicht zur gleichen Zeit für und gegen die gleiche Sache sein.“

Tatsächlich erhoben beide Kriegsparteien – die Union im Norden wie die abtrünnigen Konföderierten des Südens – den Anspruch, dass sie „den Willen Gottes erfüllten“, dass sie eine Art heiligen Krieg führten, wie Lincoln vermerkte. Lincoln war zwar überzeugt, dass am Ende „der Wille Gottes die Überhand behalten wird“. Aber diese Gewissheit erfüllte ihn keineswegs mit Siegeszuversicht, im Gegenteil. Tatsächlich wollte sich das Kriegsglück lange Zeit nicht zugunsten der Union wenden. In den ersten Kriegsjahren versank Lincoln oft in tiefe Verzagtheit. Der Tod des geliebten Sohnes Willie, der am 20. Februar 1862 dem Typhus erlag, und die folgende schwere Depression seiner Ehefrau Mary brachten den Präsidenten an die Grenze dessen, was er tragen konnte.

Doch der zähe Kriegsverlauf forderte die ganze physische und geistige Kraft des Präsidenten. Als der Pfarrer der Presbyterianer-Kirche an der New York Avenue in Washington nahe dem Weißen Haus in einer Predigt die Gewissheit äußerte, „Gott ist auf unserer Seite“, ließ Lincoln wissen: „Gott ist immer auf der richtigen Seite. Mein stetes Bangen und Beten aber ist dahin gerichtet, dass ich und diese Nation auf der Seite Gottes sein mögen.“ Ob am Ende die Union oder die Konföderation auf der richtigen Seite der Geschichte stehen und siegen würde, wusste nur Gott selbst.

Vor der Schlacht von Antietam bei Sharpsburg in Maryland am 17. September 1862 sagte Lincoln, dass er einen Sieg des Nordens über die Südstaaten als „Zeichen der göttlichen Vorsehung“ betrachten würde, unverzüglich die Emanzipation der Sklaven zu beschließen. In dieser Schlacht standen sich mehr als 75 000 Soldaten der Union unter dem stets zögerlichen General George McClellan und 38 000 Mann in der Uniform der Konföderierten unter dem Befehl von General Robert Lee gegenüber. Lee hatte im Sommer 1862 den ersten Vorstoß vom Süden her über den Fluss Potomac nach Norden auf Unions-Territorium gewagt. Ein weiterer Vormarsch Lees auf das nahe Washington hätte die Niederlage der Union bedeuten können. Als sich der Abend über das blutgetränkte Hügelland am Nordostufer des Potomac senkte, waren an einem einzigen Tag mehr als 3650 Soldaten beider Seiten gefallen- insgesamt 17 300 Mann waren verwundet worden. Bis heute ist die Schlacht von Antietam der blutigste Tag in der Geschichte aller amerikanischen Kriege. Am 6. Juni 1944, dem Tag der Invasion der Alliierten in der Normandie, ließen 2500 amerikanische Soldaten ihr Leben.

Obwohl Lees geschlagene Armee nicht vernichtet wurde, sondern sich über den Potomac zurück nach Virginia in Sicherheit bringen konnte, war der Sieg McClellans eine vorläufige Wende im Bürgerkrieg. Am 22. September 1862 bekräftigte Lincoln bei einer Kabinettssitzung in Washington seine Überzeugung, dass die Schlacht von Antietam „ein Zeichen göttlichen Willens ist und dass daraus meine Pflicht erwächst, in der Sache der Emanzipation voranzuschreiten“. Nicht er selbst habe „in der Sklavenfrage entschieden, sondern Gott“.

In einem Gespräch am 26. Oktober 1862 mit einer Gruppe von Quäkern, die den Präsidenten im Weißen Haus besuchten, sagte Lincoln: „Wäre es nach mir gegangen, dieser Krieg hätte nie begonnen, und hätte ich später meinen Willen gehabt, wäre er längst zu Ende. Und doch dauert er fort, und wir müssen glauben, dass Er ihn für seine eigenen Zwecke zulässt, deren Weisheit ein Rätsel bleibt und sich uns nicht erschließt. Und selbst wenn wir das mit unserem begrenzten Menschenverstand nicht begreifen können, so müssen wir doch daran glauben, dass Er, der die Welt geschaffen hat, sie auch lenkt.“ Am 1. Januar 1863 erließ Lincoln, gleichsam auf Geheiß Gottes, die „Emancipation Proclamation“ zur Freilassung von 3,1 Millionen der insgesamt vier Millionen Sklaven in der Konföderation. Die Sklaven in jenen Staaten der Union, die an die Konföderation im Süden grenzten, profitierten von der Proklamation zu ihrer Emanzipation zunächst nicht. Sie kamen aber durch Gesetze, die in den Grenzstaaten bald darauf erlassen wurden, ebenfalls kurze Zeit später frei.

Den eigentlichen Wendepunkt des Krieges aber brachte erst die Schlacht von Gettysburg in Pennsylvania vom 1. bis zum 3. Juli 1863. Dabei schlugen die nun von General George Mead befehligten Unions-Truppen den zweiten Vorstoß der Konföderierten-Armee nach Norden endgültig zurück. Mit insgesamt 8000 Gefallenen während der drei Tage war die Schlacht von Gettysburg die blutigste des gesamten Bürgerkriegs. Als Präsident Lincoln gut vier Monate später, am 19. November 1863, seine Rede zur Einweihung des Soldatenfriedhofs und der Gedenkstätte von Gettysburg hielt, waren das Ausmaß und die Zerstörungen der Schlacht noch gegenwärtig. In Gettysburg habe Lincoln „an jenem Tag die Nation dazu aufgerufen, sich neu dem Kampf für die Überzeugung zu widmen, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, und mit neuer Entschlossenheit dafür einzutreten, dass Amerikas demokratisches Experiment um der Menschheit willen gerettet wird“, schreibt der Lincoln-Biograph Stephen B. Oates in seinem Buch „With Malice Toward None“ von 1977.

Lincolns „Gettysburg Address“ ist vielleicht die beste, jedenfalls eine der prägnantesten und kürzesten aller Präsidentenansprachen der amerikanischen Geschichte. Sie dauerte kaum zweieinhalb Minuten. Die Ansprache hebt an in biblischer Diktion und erinnert an die Unabhängigkeitserklärung von 1776, gleichsam die „Heilige Schrift“ der neuen Nation Amerika. Mit der „Declaration of Independence“ vom 4. Juli 1776, so Lincoln, „gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind“. Der große Bürgerkrieg, in dem das Land nun stehe, sei die geschichtliche Prüfung, „ob diese oder jede andere so gezeugte und solchen Grundsätzen geweihte Nation dauerhaft bestehen“ könne. Die Rede endet mit jenen ebenfalls biblisch anmutenden Sätzen, in denen Lincoln fordert, einen „heiligen Eid“ darauf zu schwören, „dass diese Toten nicht vergebens gestorben sein mögen, dass diese Nation, unter Gott, eine Wiedergeburt der Freiheit erleben und dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk nicht von der Erde verschwinden möge“.

Dass die Wörter „Gott“ und „Freiheit“ von Lincoln – wie von allen amerikanischen Präsidenten – in einem Atemzug genannt werden, dass sie zugleich mit dem Auftrag Amerikas zur globalen Verteidigung und Verbreitung dieses Gottesgeschenks an die Menschenkinder verbunden werden, ist das Fundament des Gründungsmythos und der Geschichtsphilosophie der Vereinigten Staaten.

Die Rolle von Glaube und Religion in der heutigen Gesellschaft ist jenes Merkmal, an dem sich die unterschiedlichen Entwicklungen in Amerika und Europa am klarsten manifestieren: Amerika glaubt – noch immer, Europa glaubt nicht – schon lange nicht mehr. Anders als die meisten Länder Europas haben die Vereinigten Staaten gewissermaßen ihren „Kinderglauben“ behalten: Amerika verstößt gegen das religionssoziologische Grundgesetz, wonach der Prozess der Modernisierung einer Gesellschaft mit einem Prozess der Säkularisierung einhergeht. Der Befund, dass Amerika unter den wohlhabenden und entwickelten Nationen über ein einzigartig vitales religiöses Leben verfügt, ist durch zahlreiche empirische Studien und Umfragen belegt. In den meisten europäischen Staaten sind die Kirchen an Sonntagen nur spärlich besetzt, die Gottesdienstbesucher weisen einen relativ hohen Altersdurchschnitt auf.

Ganz anders in Amerika. Wer an Sonntagen vormittags über das Land oder durch die Vorstädte fährt, sieht vor fast jeder Kirche überfüllte Parkplätze (und an Samstagen vor den Synagogen sowie an Freitagen vor den Moscheen). Es gibt rund 200 christlichen Fernsehstationen und gut 1300 christlichen Rundfunksender. Die Wochenzeitung „US News &amp- World Report“ hat ermittelt, dass es in den Vereinigten Staaten mehr Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel pro Einwohner gibt als in jedem anderen Land der Welt: Durchschnittlich kommt ein Gotteshaus auf 865 Einwohner.

Das öffentliche Anrufen Gottes und der Dank an den Allmächtigen ist in Amerika für den Präsidenten wie für Profisportler und Popstars ein herkömmliches Ritual, an dem niemand Anstoß nimmt. Schließlich wird schon in der Unabhängigkeitserklärung ausdrücklich „der Schöpfer“ als Ursprung der unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück genannt. Als die puritanischen Pilgerväter mit ihren Schiffen an der Küste Neuenglands landeten, erhofften sie sich Freiheit der Religion in der Neuen Welt nicht im Sinne von Freiheit von der Religion, sondern im Gegenteil als Freiheit für die Religion, nämlich für ihre eigene.

In seinem noch auf See an Bord der „Arabella“ verfassten philosophisch-theologischen Tagebuch-Traktat „A Model of Christian Charity“ bezeichnet John Winthrop (1588 bis 1649), der erste Gouverneur des Staates Massachusetts, die Siedlungen der Kolonisten an der Küste Neuenglands – allen voran und stellvertretend die Stadt Boston – als „Stadt auf dem Hügel“, als zweites Jerusalem, von wo das Licht der göttlichen Vorsehung in alle Welt strahlen werde. Die „Augen der Welt“ würden auf dieses beispielhafte Gemeinwesen gerichtet sein, und alle Welt werde diesem göttlichen Exempel nacheifern, prophezeite Winthrop. Schon dem moralischen Utopismus der Siedler lag ein Verständnis von Religion zugrunde, das bis heute das religiöse Leben Amerikas prägt – so wie die religionskritische Tradition Europas des 18. und 19. Jahrhunderts das religiöse Leben im Europa von heute prägt. Religion und Freiheit sind in Amerika seit je Zwillingsgeschwister. Denn anders als in der Alten Welt gab und gibt es in der Neuen Welt keine Staatskirchen. Nicht umsonst verbietet der Erste Verfassungszusatz dem Kongress nicht nur, die freie Ausübung der Religion zu untersagen, sondern auch, eine Religion (als die des Staates) zu gründen.

Der französische Historiker Alexis de Tocqueville (1805 bis 1859) schreibt in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ von 1835: „Bei uns in Frankreich habe ich den Geist der Religion und den Geist der Freiheit immer nur in unterschiedliche Richtung sich bewegen sehen.“ In Amerika dagegen seien Religion und Freiheit „aufs engste miteinander verbunden: Sie regieren gemeinsam auf dem gleichen Boden.“ Und weiter stellt Tocqueville fest, damit sehr aktuell: „Es gibt kein Land auf der Welt, in welchem die christliche Religion einen so großen Einfluss auf die Seelen der Menschen hat wie in Amerika.“ Dieser Einfluss aber war von Beginn an ein emanzipatorischer. Er wurde gespeist vom Impuls des Aufbegehrens der aus Europa fortgezogenen Puritaner, Pietisten und anderer Minderheitenkirchen. Niemals mehr wollten sie sich etwas vom Staat und seiner Kirche, mithin von der Staatskirche vorschreiben lassen. Der revolutionäre Furor der bürgerlichen Bewegungen Europas richtete sich gegen die Aristokratie und gegen den mit dieser verbündeten Klerus. Der revolutionäre Furor der bürgerlichen Bewegungen in Amerika wurde von den Überzeugungen der aus Europa geflüchteten christlichen „Underdogs“ gespeist. „Die Führer der Amerikanischen Revolution waren nicht, wie die Führer der Französischen Revolution, säkularisierte Politiker“, schreibt Michael Novak: „Sie schickten sich nicht an, die Religion auszulöschen.“

Der erste Verfassungskongress von 1774 begann mit der Verlesung eines Psalms durch einen Pfarrer der Episkopalkirche. Die Unabhängigkeitserklärung nimmt an vier Stellen auf Gott Bezug – als Schöpfer, als Oberster Richter, als Gesetzgeber und als Herr über die Vorsehung. Selbst Thomas Jefferson, der am stärksten weltlich orientierte Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, der später eine „Mauer der Trennung zwischen Kirche und Staat“ forderte, war der Überzeugung, dass „keine Nation jemals ohne Religion existiert hat oder regiert wurde – noch dass dies einmal der Fall sein wird“.

In Amerika sind Freiheit, Demokratie und Religion gemeinsam erstarkt, und die Religion ist bis heute lebendig und stark. In Europa, wo die Freiheit und Demokratie oft genug gegen den Widerstand der (katholischen) Religion erfochten werden musste, sind immer weniger Menschen gläubig.

Der amerikanische Religionshistoriker Mark Noll zählt die Rede Lincolns zu dessen zweiter Amtseinführung am 4. März 1865 zu jener „kleinen Handvoll halbsakraler Texte, mittels welcher die Amerikaner ihren Platz in der Welt verstehen“. Die Rede ist ebenfalls kurz und in der gleichen wuchtigen Diktion einer Predigt geschrieben wie die „Gettysburg Address“ vom November 1863. Besondere Bedeutung kommt der „Second Inaugural Address“ zu, weil es die letzte Rede Lincolns war, ehe er am 15. April – dem Karfreitag des Jahres 1865 – im Washingtoner Ford-Theater von einem fanatischen Südstaaten-Loyalisten ermordet wurde. Drei Grundgedanken durchziehen Lincolns Rede und auch seine anderen schriftlichen und mündlichen Äußerungen aus jener Zeit. Zuerst und zuvörderst ist jede Nation ein moralisches Wesen mit unausweichlichen Pflichten. Zweitens sind Gottes Wege zugleich unergründlich und weise. Und drittens muss die amerikanische Union das vor Gott gegebene Versprechen einlösen, als „Instrument für die moralische und politische Transformation“ auch anderer Nationen zu wirken: Amerika ist nicht nur Gottes erwählte Nation, sondern zugleich sein Werkzeug, um die ganze Welt nach seinem Bilde zu formen.

In einer parallelen inneren Entwicklung zur Herausbildung dieser seiner geschichtsphilosophischen Überzeugung haben sich der Gottesbegriff und das Gottesbild Lincolns verändert. Vor dem Bürgerkrieg betrachtete Lincoln Gott als eine ferne mechanistische Macht, die vor Zeiten den Weltenlauf festgelegt hat, dann aber nicht mehr selbst in den Geschichtsprozess eingreift. In der kritischen Phase des Krieges entwickelte sich ein neues Bild Lincolns von Gott: Er wird zu einer in der Gegenwart urteilenden und richtenden Wesensperson, deren unergründlichen und scheinbar willkürlichen Wegweisungen der Mensch nur zögernd folgen will.

In seiner zweiten Amtsantrittsrede, die unter dem Motto „Mit Groll gegen niemanden, mit Nächstenliebe für alle“ stand, wies Lincoln der unter hohem Blutzoll geretteten Nation den Weg zu Nachsicht und Versöhnung. Keine der beiden Seiten habe erwartet, dass der Krieg so lange dauern und so grausam sein würde, sagt Lincoln: „Jeder erwartete einen leichteren Triumph und ein weniger grundlegendes und überraschendes Ereignis. Beide Seiten lasen die gleiche Bibel und beteten zu dem gleichen Gott- und jeder erflehte Seine Hilfe gegen den anderen.“ In einem Seitenhieb gegen die Sklavenhaltergesellschaft des Südens und deren Weltbild fügt Lincoln hinzu: „Es scheint seltsam, dass es Menschen gibt, die es wagen, Gottes Beistand zu erbitten, damit sie ihr Brot aus dem Schweiß anderer Menschen herauspressen können. Aber richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet.“ Und er schließt mit dem Aufruf: „Mit Bestimmtheit im Recht, so wie Gott uns das Recht sehen lässt, lasst uns danach streben, das Werk zu vollenden, das wir begonnen haben- die Wunden der Nation zu verbinden- für den zu sorgen, der die Last des Kampfes getragen hat, sowie für seine Witwe und seinen Waisen- alles zu tun, damit wir einen gerechten und dauerhaften Frieden unter uns selbst sowie mit allen Nationen erreichen und erhalten können.“

Ein kursorischer Blick auf Reden amerikanischer Präsidenten zu wichtigen Anlässen zeigt, wie tief jene Mission verwurzelt ist, nicht nur das eigene Gemeinwesen zu vervollkommnen, sondern zugleich eine friedliche Weltordnung von Staaten nach amerikanischem Vorbild zu schaffen, die durch gemeinsame Werte und gemeinsamen Wohlstand miteinander verbunden sind. John Quincy Adams (1767 bis 1848), Amerikas sechster Präsident, hatte schon in einem Brief von 1811 an seine Mutter Abigail Amerikas Ambitionen in geradezu drastischen Worten beschrieben. Die Vereinigten Staaten hätten die Wahl, „eine unendliche Menge kleiner unbedeutender Sippen und Stämme zu bleiben, die nach Art und Vorliebe europäischer Herrscher und Unterdrücker in einem unendlichen Krieg um einen Felsen oder einen Fischteich miteinander liegen“- oder sie könnten stattdessen „eine Nation werden, die so groß ist wie der amerikanische Kontinent, die auserwählt ist von Gott und der Natur, zum größten und mächtigsten Volk heranzuwachsen, das je in einem Gemeinwesen vereint leben soll“. Lincoln seinerseits prägte in seiner Jahresbotschaft an den Kongress vom 1. Dezember 1862 das berühmte Wort, die Vereinigten Staaten seien die „letzte beste Hoffnung der Welt“.

Zumal in Zeiten von Krise und Krieg haben amerikanische Präsidenten die Beförderung der Demokratie als Amerikas vornehmste Aufgabe in der Welt beschrieben – und zugleich als Mission im Einklang mit dem Willen Gottes. Der amerikanische Historiker Walter Russell Mead hat daher vom „nationalen Messias-Komplex“ gesprochen: Generationen von Amerikanern und ihre Präsidenten waren und sind der festen Überzeugung, dass die amerikanische Gesellschaftsform, die auf dem Gottesgeschenk der Freiheit beruht, die bestmögliche überhaupt ist und dass die Welt im Ganzen ein besserer Ort wäre, wenn sie amerikanischer würde. Bis heute ist die Ideologie wirkmächtig, wonach die Expansion der amerikanischen Macht in den „Wilden Westen“ und später in der ganzen Welt keine Eroberung gewesen sei, sondern vielmehr die territoriale Ausdehnung einer Heilsmission. Ohne den Sieg in Gettysburg wäre dieses Heil zuschanden geworden, noch ehe es überhaupt in Amerika Fuß fassen konnte.