Die Gegenwart

Eine deutsche Bildungskatastrophe

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Wie die Spinnen saßen die Freunde im wirkungsvollen Netz, das die bildungspolitische Elite in der frühen Bundesrepublik ausgespannt hatte: Die Geschichte von Hellmut Becker und Georg Picht.

Nichts erschien beim Wiederaufbau der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg dringlicher als die Demokratisierung des Schulwesens. Während die einen die Lösung in einer Wiederbelebung des humanistischen Gymnasiums sahen, setzten andere, beeinflusst durch die amerikanischen Besatzungsmächte, auf Einheitsmodelle. Georg Picht (1913-1982), vor dem Krieg Schulleiter am Birklehof in Hinterzarten, glaubte unmittelbar nach 1945 noch, den Humanismus als Zukunftsmodell propagieren zu können, vollzog aber einen raschen Sinneswandel. Hellmut Becker (1913-1993), der später das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gründen sollte, setzte auf das amerikanische Modell der Re-Education, auf ein egalisierendes Schulsystem und auf eine soziologisch orientierte Bildungsforschung. Picht und Becker, die beiden sendungsbewussten Vertreter einer kleinen, aber einflussreichen Nachkriegselite, wollten von Elitebildung im Schulwesen nichts wissen. Indem sie Bildung zu jener Massenware machten, die sie heute ist, hatten sie viel mehr Einfluss, als ihre Gegner in der Kultusministerkonferenz es für möglich hielten.

Kennengelernt hatten sich die beiden, deren Geburtstag sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt, in ihrer Jugend. Becker erbte die Beziehung zu Georg Picht von seinem Vater, dem ehemaligen preußischen Kultusminister und Islamwissenschaftler Carl Heinrich Becker. Pichts Vater Werner wiederum leitete im Kultusministerium das Referat Erwachsenenbildung. Als Vater Picht beruflich nach Paris wechselte, zog seine Frau Greta, die Schwester des Romanisten Ernst Robert Curtius, mit ihrem asthmakranken Sohn Georg allein nach Hinterzarten und bewohnte eines der Häuser des späteren Birklehofs.

Georg Picht lernte Hellmut Becker im Alter von 15 Jahren im Haus seiner Eltern kennen. Er hatte zunächst keine Schule besucht, sondern war von einem Hauslehrer unterrichtet worden. Eigentlich planten die Eltern Picht und Becker, ihre beiden Söhne gemeinsam auf dem Birklehof von einem Hauslehrer unterrichten zu lassen, dem Altphilologen Josef Liegle, der dem George-Kreis nahestand. Doch dazu kam es nicht, weil Becker auf den Plan mit einer schweren Krankheit reagierte.

Zum Studium in Freiburg fanden sich die beiden wieder. In seinen ersten Studentenjahren hat sich Becker, wie er später berichtete, wenig um die Rechtswissenschaft gekümmert und stattdessen mit seinem Freund Picht Stefan George gelesen und nächtelang diskutiert. Picht sei sehr viel gebildeter als er selbst, habe wunderbar Klavier gespielt und nur deshalb auf eine pianistische Karriere verzichtet, weil er glaubte, die Qualität seiner späteren Frau Edith Axenfeld nie erreichen zu können, so jedenfalls die Einschätzung Beckers. Selbstverständlich war es nicht, dass Picht seinen Freund Hellmut Becker in die Welt Stefan Georges einführte, die er sonst, „aus tiefen Gründen, auch im Kreis meiner Freunde mit einer dichten Schicht des Schweigens zu umgeben pflegte“, wie er 1952 in einem Brief an den engen Vertrauten Georges, den Publizisten, Unternehmer und Nachlassverwalter des Dichters, Robert Boehringer, schrieb.

Über Picht hatte Becker auch dessen Vetter zweiten Grades, Carl Friedrich von Weizsäcker, kennengelernt, ebenfalls ein George-Anhänger. Becker, der in Leipzig Assistent des Staatsrechtlers Ernst Rudolf Huber gewesen war, teilte an der 1941

gegründeten Reichsuniversität Straßburg das Haus mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Alles, was er jemals von Platon begriffen habe, hat Weizsäcker einmal festgestellt, sei ihm von Picht vermittelt worden. Für Picht war die Beschäftigung mit Platon eine Lebensaufgabe. Am Birklehof unterhielt er über Jahrzehnte das Platon-Archiv, das auf ein Schlagwortregister über das Gesamtwerk des Philosophen anwachsen sollte.

Becker verdankte Picht nicht nur die Initiation in die George-Lektüre, sondern auch die Bekanntschaft seines „in späteren Jahren sicherlich ersten intellektuellen Gottes“ (Ulrich Raulff), Sigmund Freud. Becker hatte mit Alexander Mitscherlich und Max Horkheimer wesentlichen Anteil an der Wiedergründung des späteren Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt.

Beckers Art des Weltzugangs war die eines Menschenforschers, der eifrig mit Freuds Theorien von der Ichbildung und der Triebentwicklung dilettierte und sie bei jeder Gelegenheit anzubringen suchte. Er liebte es, andere mit persönlich-hintergründigen Fragen in die Enge zu treiben. Das schloss nicht aus, dass er sich für Freunde und Ziehkinder, denen er sich besonders verbunden fühlte, einsetzte und ungeniert Briefe an höchste Stellen schrieb. Seine Korrespondenzordner sind überbordend, er muss mitunter mehr als hundert Briefe am Tag diktiert haben. Als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung soll er zwei Sekretärinnen im Schichtdienst beschäftigt haben. Unerschrocken schrieb er Ministerien an, um auf die Berufungspolitik von Universitäten und politischen Stellen Einfluss zu nehmen. Sein ungeheures Freundschaftsnetzwerk nutzend, hat er manchem, wie dem früheren Verwaltungsjuristen des Wissenschaftskollegs Joachim Nettelbeck, die Karriere geebnet.

Als Anwalt in Kreßbronn lebend, hatte Becker das bayerische und das baden-württembergische Schulsystem über seine Kinder und seine an einer Grundschule unterrichtende Frau kennengelernt. Das war offenbar abschreckend genug. Jedenfalls bemerkte ein späterer Generalsekretär der Kultusministerkonferenz treffend, dass Becker sich nie für Schule interessiert hätte, wenn er nicht das Pech gehabt hätte, an der bayerisch-württembergischen Landesgrenze zu leben.

Sein Freund Picht, der zunächst in der Kirchenväterkommission der Berliner Akademie der Wissenschaften beschäftigt und wegen Asthmas vom Kriegsdienst befreit war, unterrichtete am Birklehof alte Sprachen, bis die Nationalsozialisten im Jahr 1942 das Internat übernahmen. Picht zog als Lehrbeauftragter an das Institut für Altertumswissenschaft in Freiburg und wurde im selben Jahr promoviert. Nach dem Krieg hatte er zunächst vor, den Birklehof, der 1932 als Ausgründung der von Kurt Hahn geleiteten Schule Schloss Salem entstanden war, als evangelisches Gymnasium wiederzueröffnen. Er hielt es für unmöglich, eine Schule im weltanschaulich leeren Raum zu eröffnen, und glaubte, eine Schule mit der „Magna Charta des Neuen Testaments“ führen zu können, so in einem Brief an seinen Freund Becker. Picht wollte sich als Direktor bewerben und nicht länger als zehn Jahre bleiben, weiterhin seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen und sich habilitieren. Er hegte einen tiefen Widerwillen gegen die „subalterne Existenz eines heutigen Universitätslehrers und gegen all die Kleinheit und Mittelbarkeit, aus der die Universität von der Universität aus nicht erlöst werden kann – vielleicht aber von einer solchen Schule aus. Da wäre ich in meinem Bereich der König“ – eine nicht gerade unbescheidene Vorstellung.

Die Schule sollte eine Synthese von Tübinger Stift, Schulpforta und Salem sein, doch aus dem Plan wurde nichts. Die badische Landeskirche stellte Picht zu viele Bedingungen, der Direktor in spe fühlte seine Freiheit empfindlich eingeschränkt, so dass der Birklehof am 6. Januar 1946 als humanistisches Gymnasium wiedereröffnet wurde. Picht sah sich nun mit handfesten Alltagsfragen konfrontiert – von der Kartoffelbeschaffung bis zur Lehrersuche.

Nach dem Zusammenbruch, den er als endgültige Bloßlegung unwahrhaftiger Autoritäten erlebte, erschien ihm die Rückkehr zur humanistischen Bildung als einziger Weg in die Zukunft. Mit einer für heutige Ohren unvorstellbar pathetischen Rede, in der Wahrhaftigkeit, Ehrfurcht, Ritterlichkeit, Gehorsam und Glauben als Leittugenden ausgegeben wurden, eröffnete er die Schule wieder. Es war der hohe Ton, der im Hause Picht auch bei Tisch herrschte und manchen Gast befremdete. Mit seiner Idee von einer Schulbildung, die zum selbstverständlichen Umgang mit antiken Texten im Original befähigen sollte, stand er schon damals auf verlorenem Posten. Auf die Landerziehungsheime mochte er seine Hoffnung allerdings auch nicht setzen. Entschieden wandte er sich gegen deren jugendbewegte Tradition und die ihnen eigene Weltflucht in klösterliche Abgeschiedenheit. „Erziehung ist nicht dazu da, die Welt zu verbessern, im Gegenteil, sie soll auf die Welt, so miserabel, wie sie ist, recht vorbereiten“, glaubte er. Erziehung hielt Picht eher für eine „Kunst des Geschehenlassens“, nicht eine der Formung. Eine Pädagogik, die so vermessen sei, die Menschen auf ein Entwicklungsziel hin zu bilden, sei Selbstbetrug, der unheilvolle Folgen haben könne.

Pichts Ehrlichkeitsrigorismus führte zu so absurden Gewohnheiten wie Klassengerichten, wenn ein Schüler es gewagt hatte, bei einer Klassenarbeit abzuschreiben, bei der die Lehrer meist keine Aufsicht führten. „Ein Birklehofer lügt nicht“ lautete die oberste Maxime. Pichts individualistische Art, die Schule zu leiten, führte schon bald zu Spannungen mit dem Kultusministerium des Landes Südbaden. Als er eine Schülerin, die an einer öffentlichen Schule zweimal in derselben Klasse sitzengeblieben war, als Gastschülerin aufnahm, kam es zum offenen Konflikt.

Sein Freund Hellmut Becker, einst Mitglied der NSDAP, verteidigte zu jener Zeit im Wilhelmstraßen-Prozess in Nürnberg Ernst von Weizsäcker, SS-Brigadeführer und bis 1943 Staatssekretär im Außenamt. Ernsts Sohn Richard von Weizsäcker stand Becker beratend zur Seite. Der Konflikt über die Gastschülerin am Birklehof, die das Kultusministerium nicht dulden wollte, war Becker eine Reise nach Hinterzarten wert. Picht wollte die freie Schülerwahl für die freien Schulen durchsetzen, tat sich mit dem Leiter des Jesuitenkollegs in St. Blasien zusammen und beauftragte den Freiburger Rechtswissenschaftler Wilhelm Grewe mit einem Gutachten zur Auslegung des Artikels 7 Absatz 4 des Grundgesetzes. Südbaden erließ als erstes Bundesland am 14. November 1950 ein Privatschulgesetz. Es sollte zum Vorbild aller späteren Privatschulgesetze in anderen Ländern werden.

Hellmut Becker ging in den Vorstand der Schule, in dem auch der Salemer Schulleiter Kurt Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und sein Ansprechpartner in juristischen Fragen Carlo Schmid, der Leiter der Zivilverwaltung Württemberg-Hohenzollern, wirkten. Es entstand die Idee, eine Arbeitsgemeinschaft der Privatschulen zu gründen, in der konfessionelle Schulen, Herrnhuter Gymnasien und Anthroposophen zusammenwirkten. Seinen Lebensunterhalt verdiente Becker mit der juristischen Beratung von Landerziehungsheimen und mit seiner Anwaltskanzlei, die während seiner Abwesenheit von seinem Adlatus Alexander Kluge geleitet wurde. Im Jahr 1956 übernahm Becker ehrenamtlich das Präsidentenamt des Volkshochschulverbandes.

Anfang der sechziger Jahre gab es kaum ein bildungspolitisches Gremium in der Bundesrepublik ohne Hellmut Becker. Das gilt für seinen Frankfurter Stützpunkt, das Institut für Sozialforschung mit den Direktoren Adorno und Horkheimer, den Beirat des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, den Kulturbeirat des Auswärtigen Amtes, den Ettlinger Kreis mit Industriellen (auch Georg Picht und Richard von Weizsäcker waren Mitglieder) und den Deutschen Bildungsrat, dem er von 1966 bis 1975 angehörte. Auf Initiative der FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher rief Hellmut Becker mit dem späteren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Adolf Butenandt, den Atomphysikern Otto Hahn und Werner Heisenberg Mitte der sechziger Jahre den Heuss-Preis ins Leben. Gemeinsam mit Frau Hamm-Brücher, die er zwecks Aufbaus der Gesamtschulen ins hessische Kultusministerium vermittelt hatte, wählte er die ersten Preisträger aus, die allesamt zu jenem wirkungsvollen Netz gehörten, das die bildungspolitische Elite in der frühen Bundesrepublik ausgespannt hatte. Der erste Preisträger war im Jahr 1965 Georg Picht. Im Jahr darauf war es Marion Gräfin Dönhoff, die als Chefredakteurin der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine willige Erfüllungsgehilfin von Beckers publizistischen Initiativen war. 1984 folgte Richard von Weizsäcker, 1989 auch noch Carl Friedrich von Weizsäcker.

War Picht 1946 noch der Überzeugung, dass das humanistische Gymnasium wieder zu der Vorschule für die akademischen Berufe werden könne, zeigte sich spätestens nach zehn Jahren, dass eine Renaissance des humanistischen Gymnasiums unmöglich war. Im Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, in dem Picht zehn Jahre lang mitarbeitete, sparte er nicht mit Kritik an dem altsprachlichen Gymnasium, das er mittlerweile als Relikt des 19. Jahrhunderts und des deutschen Idealismus betrachtete. Den sogenannten Rahmenplan des Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus dem Jahr 1959 bezeichnete er in einem Brief an Carl Friedrich von Weizsäcker als wirklichen Einschnitt in seiner Biographie: Das dreigliedrige Schulsystem solle beibehalten, die Klassen fünf und sechs in eine Förderstufe überführt und der Stoff in der Oberstufe durch ein Kurssystem entlastet werden.

Der Rahmenplan war das erste große Reformkonzept der Nachkriegszeit, das Eingang in die Schulpolitik fand, etwa in der Verlängerung der Hauptschulzeit von acht auf neun Jahre und der Oberstufe der Gymnasien (Abitur nach 13 Jahren). Keine Beachtung fand zunächst der Vorschlag, im fünften und sechsten Schuljahr des Gymnasiums eine „Förderstufe“ einzurichten. Bis heute ist dieser Vorschlag nicht aus der Welt zu schaffen.

Ausgangspunkt der Überlegungen war die Behauptung, „dass das deutsche Schulwesen den Umwälzungen nicht nachgekommen ist, die in den letzten 50 Jahren Gesellschaft und Staat verändert haben“. Belegt wurde sie nicht. Keine Erwähnung fand auch, dass die Anzahl der Realschüler zwischen 1952 und 1960 allein um 43 Prozent, die der Gymnasiasten um 25 Prozent gewachsen war. Das konnte oder wollte der Ausschuss offenbar nicht sehen, ihm erschien das Schulwesen rückständig. Mitglieder im Deutschen Ausschuss waren neben Georg Picht Adolf Butenandt, der katholische Publizist Walter Dirks sowie der Göttinger Erziehungswissenschaftler Erich Weniger.

Jahre später konnte Picht nur noch das Scheitern seiner Pläne feststellen und machte dafür den hemmungslosen Egoismus der Kultusbürokratien der Länder verantwortlich. Auch in dieser Einschätzung wusste er sich mit seinem Freund Becker einig, dem der „hemmungslose Etatismus“ der Länder schon längst ein Dorn im Auge war. Gemeinsam mit dem wissenschaftspolitisch ausgerichteten Deutschen Forschungsrat, der 1951 mit der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zur Deutschen Forschungsgemeinschaft fusioniert werden sollte, betrieb Hellmut Becker die Einrichtung einer Koordinationsstelle für die Forschung im Bundeskanzleramt. Adenauer war dafür, nicht aber die Länder und der damalige Innenminister Gustav Heinemann, der seine Macht empfindlich beschnitten sah. Die Koordinierungsstelle sollte vor allem dafür sorgen, theoretische und angewandte Forschung enger zusammenzuhalten. 1950 wurde sie tatsächlich eingerichtet, Becker sollte sie leiten.

Doch Becker entschied sich damals gegen die Politik und besann sich in einem Brief an Heisenberg, den Präsidenten des Deutschen Forschungsrats, auf die Vorzüge seiner freiberuflichen Tätigkeit, die er nicht für einen unsicheren Posten in Bonn aufzugeben trachtete. Picht witterte damals größere Einflussmöglichkeiten in der Bundespolitik und riet Becker zu, nicht ohne in einem Brief hinzuzufügen, dass absolut sichergestellt sein müsse, dass Becker nicht an den Kurs Adenauers gebunden wäre, der ihm „sehr schnell abzuwirtschaften“ schien. Die Landerziehungsheime würden, so Picht, doch erst in Kombination mit der Bonner Stelle richtig interessant. Aber Becker wähnte sich in einer viel zu wichtigen Rolle, als dass er sich in das Korsett des politischen Beamtentums hätte begeben können. Er machte seinen Einfluss geltend, wo immer er konnte, obwohl er über keinerlei wissenschaftliche Reputation verfügte. Er bewegte sich mit dem Selbstbewusstsein eines von der Herkunft Geadelten auf dem politischen Parkett, führte mit seiner französischstämmigen Frau ein großes Haus in Berlin und wurde schließlich auf Anregung Carl Friedrich von Weizsäckers im Jahre 1963 in die Max-Planck-Gesellschaft geholt und zum Gründungsdirektor des späteren Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung berufen. Das Institut bot ihm eine wesentlich freiere Basis für das geheime Bundeskultusministerium als jedwede Koordinationsstelle im politischen Bonn.

Mit seiner vierteiligen Artikelserie „Die deutsche Bildungskatastrophe“, die 1964 in der protestantischen Wochenzeitung „Christ und Welt“ erschien, war seinem Freund Picht fast zur selben Zeit ein Paukenschlag gelungen. Mit einem Mal standen Bildungsfragen im Zentrum der öffentlichen Debatte. Es stehe ein Bildungsnotstand bevor, den sich kaum jemand vorstellen könne, ein wirtschaftlicher Notstand, der die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedrohen könne, so die Kassandrarufe Pichts.

Aus Studien der OECD und der sogenannten Bedarfsfeststellung der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1963 meinte der Heidegger-Schüler schließen zu können, dass das Erziehungs- und Bildungswesen der Bundesrepublik bei weitem nicht in der Lage sein werde, den Bedarf an qualifizierten Nachwuchskräften zu decken. Die Zahl der Abiturienten müsse mindestens verdoppelt, die der Akademiker erheblich gesteigert werden, „wenn Westdeutschland im Zuge der Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation nicht unter die Räder kommen soll“. Die Texte zur Bildungskatastrophe gingen selbst seinem Freund Hellmut Becker zu weit. Er warnte Picht in einem Brief Anfang 1965 davor, die Mischung von Journalismus und apokalyptischer Prophezeiung an anderer Stelle zu wiederholen.

Die von Picht geforderte Expansion des Bildungswesens, die heute allenfalls noch die OECD propagiert, hatte sich längst abgezeichnet, und die Verdoppelung der Abiturientenzahl innerhalb eines Jahrzehnts wurde tatsächlich erreicht. Während es im Jahr 1963 noch 61 000 Abiturienten waren, waren es 1973 schon 148 300, darunter 39 000 Absolventen mit Fachhochschulreife. Picht ging es um eine Anklage und letzten Endes darum, den Kulturföderalismus unter Umgehung des Grundgesetzes auszuhebeln. Ein zentrales Bildungssystem nach französischem Vorbild schien ihm der geeignete Ausweg zu sein.

Etwa ein Jahrzehnt später sah sich Picht als Hauptschuldiger für ein Übermaß von Abiturienten auf der Anklagebank. Bei einer Tagung 1973 rechnete Picht, der dem bildungspolitischen Treiben längst den Rücken gekehrt hatte und den 1964 geschaffenen Lehrstuhl für Religionsphilosophie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg übernommen hatte und außerdem seit 1958 die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (Fest) in Heidelberg leitete, mit dem Bildungssystem ab. Längst war er zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Neuordnung der Schulen und Hochschulen erst möglich werde, wenn der Bund eine Rahmenkompetenz erhalte, denn der Kulturföderalismus sei gescheitert. Die gesamte Struktur des Bildungssystems – sein dreigliedriger Aufbau, die Trennung von Berufs- und Allgemeinbildung, die Verknüpfung der Zeugnisse mit einem Berechtigungswesen – entspreche der geistigen Lage und der Realität des 20. Jahrhunderts längst nicht mehr.

Picht war der Überzeugung, dass sich schlechte Startbedingungen nur ausgleichen ließen, wenn die durch das Berechtigungswesen legitimierte bürokratische Reglementierung der Bildungsgänge abgeschafft werde. Was an die Stelle des Berechtigungswesens treten sollte, sagte Picht nicht, wie einer seiner schärfsten Kritiker, der spätere Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (Dipf) Christoph Führ damals bemerkte. Doch solcher Realismus war damals unter Bildungsreformern so wenig gefragt wie heute.