Die Gegenwart

Distanzierungstango in der Pädofrage

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Daniel Cohn-Bendit war nicht der einzige Grüne, der Sex mit Kindern phantastisch fand. Die Forderung nach einer Entkriminalisierung von Pädophilie fand 1980 sogar Eingang in das Grundsatzprogramm der neuen Partei. Pädophilen-Aktivisten setzten aber nicht nur auf die Grünen, sondern auch auf die FDP. Mit Erfolg.

Wenn ein kleines Mädchen von fünf oder fünfeinhalb Jahren beginnt, Sie auszuziehen. Dann ist das fantastisch. Das ist fantastisch, weil es ein Spiel ist, ein absolut erotisch-manisches Spiel.“ Mit diesem Satz in einer französischen Talkshow hatte Daniel Cohn-Bendit im Jahr 1982 sein Publikum provozieren wollen, um sich in das von ihm so geschätzte Licht des Tabubrechers zu setzen. Ganz gelang ihm das nicht. Keiner der anderen Gäste in der Sendung reagierte erkennbar entrüstet, niemand wollte den pausbäckigen Lümmel in die Schranken weisen. Auch in der Presse las man hernach keine kritischen Kommentare. Ganz ähnlich hatte die Öffentlichkeit sieben Jahre zuvor auf die einschlägigen, mittlerweile berühmt-berüchtigt gewordenen Passagen in Cohn-Bendits „Le Grand Bazar“ reagiert – gar nicht.

Warum auch? Unter Intellektuellen in Frankreich fielen Forderungen nach straflosem Sex mit Kindern und Heranwachsenden auf fruchtbaren Boden. Es war eine „andere Zeit“, wie „Le Monde“ Jahre später etwas verschämt schrieb. Auch diese reputierliche Zeitung übte in den siebziger Jahren reichlich Nachsicht gegenüber den Kreisen pädophiler Jünger, während die linksrepublikanische „Libération“ dem Sex mit Kindern gar eine „echt soziale Mission“ attestierte, wie die Historikerin Anne-Claude Ambroise-Rendu rückblickend festhielt.

Als im Januar 1977 drei Männer wegen Sexualdelikten gegen 13 und 14 Jahre alte Kinder auf ihren Prozess warteten, solidarisierten sich mit ihnen etliche Intellektuelle, darunter Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Louis Aragon, Catherine Millet, André Glucksmann, Jack Lang sowie Sarkozys späterer Außenminister Bernard Kouchner. Das war seinerzeit eben „die Epoche“, so pflegt auch Cohn-Bendit seine damaligen Äußerungen zu exkulpieren: „Die sexuelle Debatte wusste nichts vom sexuellen Missbrauch.“ Der sexuelle Befreiungsimpetus segelte in den Jahren nach 1968 im Windschatten der Enttäuschung über die ausgebliebene politische Revolution. Also setzten die Propheten der Fundamentalveränderung auf die Selbstreform, auf Pädagogik, auf die Emanzipation der Individuen von den Zwängen einer überkommenen, klerikal und bigott durchsäuerten Klassengesellschaft. Das war der Jargon jener Zeit. Wie immer in Momenten tiefer politischer Enttäuschungen richteten sich die Hoffnungen auf die noch nicht korrumpierte Gesinnung der Jugend, jetzt gar: der Kinder. Die pädophile Zuwendung avancierte zum Ferment einer Umwälzung des Alltags, des Zusammenlebens, der befreienden Liebe. So war es in Frankreich. So erlebte man es, ganz besonders, in den Niederlanden. Und so entwickelte sich auch ein Teil der deutschen „Neuen Linken“.

“Darum weg mit dem Scheißsystem, auf zur sexuellen Revolution! Fang heute damit an. Die stillen Revolutionen sind oft die wirkungsvolleren.“ So lautete der Schlachtruf eines der führenden PolitPädophilen, Olaf Stüben, in der linksalternativen „taz“ vom 16. November 1979. Schon im Januar 1977 war während eines Teach-in in der Universität Frankfurt vor Hunderten Zuhörern offen für Sex zwischen Erwachsenen und Kindern plädiert worden. Einige aus dieser Szene sollten bald ihren Marsch durch die Institutionen antreten – in der neuen Partei „Die Grünen“, aber nicht nur darin.

Viel war zuletzt über pädophilenfreundliche Beschlüsse der nordrhein-westfälischen Grünen aus dem Jahr 1985 zu lesen. Doch die Forderung nach einer strafrechtlichen Freistellung von Pädophilie findet sich schon im ersten Grundsatzprogramm der Grünen aus dem Jahr 1980, eingebettet in den Abschnitt „Gegen die Diskriminierung von sexuellen Außenseitern“. Eine im Dezember 1979 verabschiedete „Gemeinsame Plattform der Schwulen und Lesben in der alternativen Wahlbewegung“ war die Grundlage, auf der die Delegierten der Saarbrücker Bundesversammlung der Grünen im Frühjahr 1980 berieten. Heraus kam ein Beschluss, der nichts anderes verlangte als die Legalisierung von Pädophilie: Im Strafgesetzbuch (StGB) sollten die Paragraphen 174 und 176 so gefasst werden, „dass nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind“.

Was war damit gemeint? Beide Paragraphen stellten (und stellen) auf das Vorliegen einer sexuellen Handlung an Kindern beziehungsweise an Jugendlichen ab, unabhängig davon, ob Gewalt im Spiel ist. Sexuelle Handlungen an Kindern unter 14 Jahren insgesamt und an denjenigen Jugendlichen unter 16 Jahren, die dem Täter zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anvertraut worden sind, standen ausnahmslos unter Strafe. Bei Bewertung der Strafbarkeit kam es wegen der strukturellen Abhängigkeit und Unterlegenheit des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen somit nicht auf die Einwilligung des Schutzbefohlenen an. Die Abhängigkeit an sich begründete die Schutzbedürftigkeit. Nur im Fall von Erziehungs-, Ausbildungs-, Dienst-, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnissen von Jugendlichen über 16 Jahren bedurfte es nach dem Willen des Gesetzgebers auch des Missbrauchs der Abhängigkeit.

Den Grünen war diese besondere Schutzbedürftigkeit einerlei. Sie wollten angeblich einvernehmlichem Geschlechtsverkehr etwa von Betreuern, Lehrern oder Erziehern mit ihren schutzbefohlenen Minderjährigen oder von Erwachsenen mit Kindern kaum noch Grenzen setzen. Nur die Anwendung von Gewalt hätte bestraft werden sollen, während all jene Formen nicht länger unter das Strafrecht fallen sollten, in denen das Opfer „gewaltfrei“ gefügig gemacht worden wäre. Die im Strafgesetzbuch gezogenen Altersgrenzen stellen nämlich eine „absolute Grenze für den sexualbezogenen Umgang strafmündiger Personen mit Kindern“ dar, wie es in einem Strafrechtskommentar heißt. Genau diese absolute Grenze wollten die Grünen zu Fall bringen und pädophile Handlungen gutheißen.

Der Beschluss der Saarbrücker Bundesversammlung des Jahres 1980 war vorab scheinbar unstrittig. Es gab weder Änderungsanträge noch Minderheitenvoten aus der Programmkommission. Erst während der Versammlung stand die Forderung nochmals zur Debatte. Der schleswig-holsteinische Biobauer Baldur Springmann verlangte, die bereits beschlossenen Positionen zur Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs und zur Pädophilie wieder aus dem Programm zu streichen. Hinter den Kulissen begannen daraufhin Verhandlungen, die einen Kompromiss ermöglicht hätten, wonach die strafrechtliche Freigabe von Abtreibungen im Programm Bestand hat, die Forderung nach Aufhebung der die Pädophilie betreffenden Paragraphen 174 und 176 StGB gestrichen werden sollte. Als der heutige Hamburger Theatermacher Cornelius „Corny“ Littmann davon erfuhr, machten er und andere Repräsentanten der Schwulenbewegung „sehr schnell und energisch deutlich . . ., dass für uns eine nachträgliche Streichung der Forderung nach Revision der §§ 174 und 176 auf keinen Fall in Frage kommt“. So stellte es Littmann jedenfalls seinerzeit im Organ des Kommunistischen Bundes (KB) „Arbeiterkampf“ dar.

Zusammen mit dem Rechtsanwalt Otto Schily, dem Vorsitzenden des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz Roland Vogt und anderen verfasste Littmann eine Resolution, welche die Beschlussfassung im Grundsatzprogramm einrahmen sollte: „Zu diesem Beschluss konnte leider auf dem Parteitag nicht gemeinsam diskutiert werden. Auch an der Parteibasis ist diese Frage bisher teilweise nicht oder nur wenig diskutiert worden. Dies ist weder im Sinne der Betroffenen noch der Antragsteller, noch der Partei insgesamt. Deshalb meinen wir, dass Abs. 521 folgendermaßen zu verstehen ist: Er ist ein Auftrag an die Partei in allen Gliederungen, sich mit den Auswirkungen dieser Straftatbestände intensiv auseinanderzusetzen. Durch diesen Auftrag ist das Ergebnis dieser Diskussion natürlich nicht festgelegt. Es wird eine Kommission gebildet, die Hilfestellung bei der Diskussion gibt. Gerade im Hinblick auf die berechtigten Sorgen und Ängste, die sich mit diesem Themenbereich verbinden, halten wir es für notwendig, dass auf einem der nächsten Parteitage unter Beteiligung von Betroffenen und Fachleuten dieses Thema ausführlich behandelt wird.“ Die Grünen signalisierten dadurch Offenheit, setzten den Beschluss als solchen aber in Kraft. Er blieb es bis zur Fusion mit Bündnis 90 im Jahr 1993.

In der Schwulenbewegung der siebziger Jahre galten die Vertreter pädophiler Positionen als Sonderlinge. Doch das Selbstbild der Homosexuellen als verfolgter Minderheit brachte es mit sich, dass man sich gegenüber Minderheiten in den eigenen Reihen eher tolerant zeigte. Pädophile hielten zudem zögernden Mitstreitern vor, dass diese jene Argumentation reproduzierten, mit der man einst auch Homosexuelle stigmatisiert hatte.

Die Allianz zwischen den Schwuleninitiativen und den Pädophilenvereinigungen, die sich in den siebziger Jahren gebildet hatten, kulminierte auf einer Veranstaltung, die im Sommer des Jahres 1980 unter dem Titel „Homosexuelle zur Bundestagswahl – Parteien auf dem Prüfstand – Schwulen und Lesben befragen die Parteien“ in der Bonner Beethovenhalle stattfand. Über Monate hatten die unterschiedlichen Gruppen erbittert über Sinn, Inhalt und Form gerungen. Strittig war nicht nur die Beteiligung von Pädophilengruppen, sondern auch die Frage, ob auch Vertreter der „etablierten“ Parteien eingeladen werden sollten. Vor allem antikapitalistische Gruppen waren mit dem Argument dagegen, das diesen eine Bühne für die Vereinnahmung oppositioneller Kräfte geboten werden könnte.

Die „realpolitischen“ Fraktionen der Schwulen- und Pädophilenbewegung setzten sich zunächst durch. Denn ihre Hoffnungen richteten sich im damaligen Dreiparteiensystem besonders auf die FDP. Von der CSU, der Partei des damaligen Unionskanzlerkandidaten Franz Josef Strauß, wurden die Freien Demokraten damals mit dem Vorwurf überzogen: „Für Kommunisten, Homosexuelle und Gewaltverbrecher – das wahre Gesicht der FDP“. Immerhin gehörte Eberhard Zastrau, ein exponiertes Mitglied der FDP-Jugendorganisation „ Deutsche Jungdemokraten“ und in seinem Todesjahr 2012 in der Piratenpartei aktiv, zu den rührigsten Organisatoren des Treffens.

Die Veranstaltung, zu der gut tausend Personen anreisten, verlief kurz und denkbar turbulent. Die berüchtigte Nürnberger Kinderkommune und die Berliner Oranienkommune schmetterten lautstark Parolen für eine gemeinsame Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern, lärmten mit Trillerpfeifen und warfen Stinkbomben, ehe sie das Saalmikrofon usurpierten. In der Historiographie der Schwulen- und Pädophilenbewegung gilt das Bonner Beethoven-Spektakel seither als „Desaster“ und als „traumatische Erfahrung“.

Jedenfalls urteilte so der Realo-Flügel, die sogenannten „Kontis“ (kontinuierlich Arbeitende), die über die Institutionen des Parlamentarismus Einfluss zugunsten ihrer Forderungen zu nehmen versuchten. Gut drei Dutzend Personen zogen sich an diesem 12. Juli 1980 mit den anwesenden Vertretern von CDU, SPD, Grünen und FDP auf der Flucht vor den aggressiven Stadtindianern in einen Nebenraum zurück und setzten die Diskussion in kleinem Kreis fort. Erwartungsgemäß sahen Christ- und Sozialdemokraten keinen Grund, das Sexualstrafrecht zugunsten von Pädophilen zu ändern. Auch Corny Littmann, der für die Grünen sprach, musste ein wenig kleinlaut zugeben, dass in seiner Partei noch Diskussionsbedarf bestehe und man ohne Versprechungen in den Wahlkampf ziehen werde. Die Grünen waren also, wie es in den Berichten von Teilnehmern aus der Schwulen- und Pädophilenszene hieß, hinter „dem Stand“ der „epochemachenden F.D.P.-Erklärung“ geblieben, die sich für die ersatzlose Streichung des damaligen Paragraphen 175 StGB (Verbot sexueller Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts) einsetzte und deren damaliger Generalsekretär Günter Verheugen persönlich auch eine Revision der Paragraphen 174 und 176 für möglich hielt.

Auf die FDP setzten damals auch die Aktivisten der „Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie“ (DSAP), eines Zusammenschlusses jener Kader, die sich nach dem Vorbild niederländischer Avantgardisten wie des sozialdemokratischen Abgeordneten Edward Brongersma als politische Speerspitze der Pädosexualität verstanden. Nicht zufällig war die DSAP auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Jungdemokraten im März 1980 geladen. Freudig hielt man anschließend fest, dass die Delegierten dort ebenfalls eine Streichung der Paragraphen 174 und 176 gefordert hätten. Ein Beschluss der FDP selbst wurde daraus nie. Kausal keineswegs zwingend, aber doch interessant ist, dass Dagmar Döring, damals Studentin an der FU Berlin und eine der wenigen Frauen in dem Führungsgremium der DSAP, viele Jahre später ihre politische Heimat in der FDP fand. In diesem Jahr bewarb sie sich für die FDP um das Direktmandat des Wahlkreises Wiesbaden für den Deutschen Bundestag. Am Samstag vor der Veröffentlichung dieses Beitrags trat die vormalige Sprecherin des hessischen Justizministers Hahn von ihrer Kandidatur zurück.

Ein weitgefasstes Liberalismusverständnis und eine besondere Akzeptanz von Minderheiten fanden sich in den frühen achtziger Jahren also nicht allein unter den Grünen. Doch auf deren Parteitagen sprach man sich in Resolutionen dafür aus, Strafvorschriften zu Fall zu bringen, die „,Zärtlichkeiten’ zwischen Jüngeren und Älteren kriminalisierten“. Konkrete Forderungen, Pädophilie aus dem Sexualstrafrecht auszunehmen, fanden sich in den Landtagswahlprogrammen von Rheinland-Pfalz, Bremen, Hamburg oder Berlin, jedoch nicht in den Bundestagswahlprogrammen. Freilich wurde im Blick auf die Bundestagswahl 1980 „jede gesellschaftliche Benachteiligung oder strafrechtliche Sonderbehandlung aufgrund des Sexualverhaltens“ abgelehnt. In Verbindung mit dem Grundsatzprogramm sowie den begleitenden Resolutionen stimmte die strikte Ablehnung von Sonderstrafrechtsregelungen im Wahlprogramm durchaus mit den Interessen der Pädophilieaktivisten überein.

Bald nach der Bundestagswahl 1980 erlahmte die Debatte über die Reform des Sexualstrafrechts. Der im Grundsatzprogramm reklamierte Diskurs blieb aus, im Wahlaufruf zur Bundestagswahl 1983 spielt das Thema sexuelle Orientierung keine Rolle mehr. Angesichts der apokalyptischen Grundierung des Programms, das die thermonukleare Vernichtung der Menschheit sowie die ökologischen Herausforderungen in düstersten Farben malte, betonten die Grünen immerhin noch ihre Verbundenheit mit Initiativen, die sich „gegen sexuelle Unterdrückung“ einsetzten, und jenen, die „gegen die Diskriminierung abweichender Minderheiten“ engagiert seien. Vieles blieb darin vage und ließ einen weiten Interpretationsspielraum zu.

Nach dem Einzug in den Bundestag im Herbst 1983 entstanden im Umfeld der Fraktion Bundesarbeitsgemeinschaften, die die Anbindung an Bewegungen und Parteibasis sicherstellen sollten. Eine dieser Arbeitsgemeinschaften hieß „Schwule, Päderasten und Transsexuelle“, kurz SchwuP. In dieser agierten in führender Funktion selbst einschlägig vorbestrafte Sexualstraftäter wie Dieter F. Ullmann, auch er ein Vorstandmitglied der DSAP.

Neben SchwuP und ihren Auslegern in einzelnen Ländern entpuppten sich auch einige Arbeitsgemeinschaften für Kinder- und Jugendpolitik als Einfallstor für pädophile Positionen. Nachdem die Stadtindianer-Kommune aus Nürnberg 1980 vehement für ihre Forderungen geworben hatte, zu denen neben der Abschaffung der Schulpflicht eben auch eine Streichung der genannten Strafrechtsparagraphen gehörte, verzichteten die Grünen in ihrem Grundsatzprogramm auf einen Abschnitt über Kinder- und Jugendpolitik. Diese Leerstelle wurde ebenso wenig zeitnah geschlossen, wie die zum Sexualstrafrecht geplante Debatte stattfand. Auf Druck der Stadtindianer sah sich die Bundespartei 1983 immerhin veranlasst, einen Kongress zu veranstalten und im Bundestagswahlkampf ein Faltblatt „Zur Kinder- und Jugendfrage“ herauszubringen. Auch darin wurde von „verbreiteter Sexualfeindlichkeit“ gesprochen, die es Kindern verweigere, „Sexualität zu praktizieren“. Man konstatierte, ganz im Sinn der Beschlüsse aus den Vorjahren, dass „Gesetze in diesem Bereich . . . nicht dem Schutz der Kinder (dienen), sondern der Unterdrückung und Diskriminierung der Sexualität“. Mit diesen Formulierungen im Rücken war es für die Pädophilieaktivisten jener Zeit problemlos möglich, bei den Grünen ein Forum zu finden, in dem sie für eine Freigabe von Pädophilie werben konnten und zumindest als Minderheit akzeptiert wurden.

Eine Sinnesänderung setzte erst ein, als die Beschlüsse des nordrhein-westfälischen Landesverbands vor der Landtagswahl 1985 erkennen ließen, welch fatale Wirkung die Offenheit zugunsten aller möglichen Minderheiten besitzen konnte und wie sehr der „Kindersex-Skandal“ die Grünen von der Mehrheitsgesellschaft isolierte. Diese Debatten, Veränderungen in der schwulenpolitischen Agenda, auf der Aids eine wachsende Rolle spielte, und eine Auseinandersetzung in der Bundestagsfraktion über die Reform des Sexualstrafrechts wirkten nun nach. Während die Bundestagsfraktion den später abgeschafften Paragraphen 175 StGB kritisierte, weil dieser durch eine Differenzierung zwischen homo- und heterosexuellen Handlungen mit Jugendlichen über 14 Jahren Homosexuelle benachteiligte, bedrängten die SchwuP-Aktivisten die Fraktion ohne Erfolg, das gesamte Sexualstrafrecht in Frage zu stellen.

Im Zuge dieser Entwicklungen gingen Nachsicht und Toleranz gegenüber pädophilen Bestrebungen zurück. Der 1985 in den Bundestag nachgerückte Herbert Rusche, der als erster Bundestagsabgeordneter seine Homosexualität öffentlich machte, sagte gegenüber einer Schwulenzeitschrift, dass die pädophilen Forderungen der AG SchwuP keine Basis in der Mitgliedschaft der Grünen hätten. Auch mahnte er: „Vielleicht wäre es gut für manchen Schwulen oder Päderasten, sich das anzuhören, welche Schwierigkeiten die Frauen damit haben. So ganz lassen sich die Vorwürfe auch nicht von der Hand weisen.“

In der Tat hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt bei den Grünen, auch unter deren homosexuellen Aktivisten, die Positionen durchgesetzt, die die Feministin Alice Schwarzer und der politisch weit links stehende Sexualwissenschaftler Günter Amendt schon 1980 in der Zeitschrift „Emma“ eingenommen hatten. Beide kritisierten – nicht zuletzt auch gegen einige der in der Szene gerne bemühten Fachleute aus der Sexualwissenschaft und Sozialpädagogik, die mit einer Fülle von vermeintlich wissenschaftlichen Expertisen dem Sexualverkehr zwischen Erwachsenen und Kindern höhere Weihen verleihen wollten – die pädophile Ignoranz der Machtunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern. Schwarzer und Amendt bestritten überdies, dass es bei der Pädophilie primär um Kinderbedürfnisse gehe, sondern wiesen auf die zwanghaften Fixierungen von Erwachsenen auf Minderjährige hin. In der Folge verloren die Pädophiliezirkel im alternativen Milieu kontinuierlich an Unterstützung. Auch die linkspolitische Schwulenbewegung gab ihre ursprüngliche Solidarität mit den anderen Opfern in den „Kriminalisierungsunternehmen der staatlichen Repression“ auf.

Auch die bei den Grünen zahlreich vertretenen Schwulen legten zunehmend Wert darauf, nicht mit Pädophilie in Verbindung gebracht zu werden. Schon 1984 äußerte der baden-württembergische Landesarbeitskreis Schwule „starken Widerwillen“ gegen eine strafrechtliche Freigabe von Pädophilie. Aus dem Südwesten wurden schließlich Vorschläge unterbreitet, die Schwulenpolitik bei den Grünen anders zu organisieren, was 1987 auch geschah.

Die Grünen trennten sich von der AG SchwuP und riefen eine neue „Bundesarbeitsgemeinschaft Schwulenpolitik“ ins Leben. Der Pädophilievorkämpfer Ullmann erkannte die Niederlage seiner Gruppe und warf der Alternativ- und Ökobewegung wütend „15 Jahre Distanzierungstango“ in der „Pädofrage“ vor – was ein wenig übertrieben schien, aber das politische Scheitern dieser Richtung auch und gerade innerhalb der Grünen Partei treffend beschrieb.

Auch im Programm zur Bundestagswahl des Jahres 1987 gingen die Grünen vorsichtig auf Distanz zur Pädophilie, wohingegen man weiterhin der Aufhebung von Diskriminierungs- und Unterdrückungsmechanismen verpflichtet bleibe und – als impliziter Hinweis auf die damalige Aids-Debatte – keinesfalls wolle, dass „Minderheiten zu Sündenböcken gestempelt“ würden. Die Grünen strebten daher eine Reform des Sexualstrafrechts an, „die die sexuelle Selbstbestimmung fördert, statt sie zu verhindern“. Der so verengte Fokus zeigte an, dass man nicht mehr auf alle Randgruppen Bezug nehmen wollte, die sich irgendwie bei den Grünen hätten verorten können. Eine weitere Liberalisierung des Sexualstrafrechts, zu wessen Gunsten auch immer, erschien jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen.

Das las sich im Bundestagswahlprogramm 1990 deutlich anders. Wie schon im vorherigen Programm galt die sexuelle Orientierung als ein Element der Diskriminierung, das seine Wirkung auch auf die Hauptwidersprüche der Gesellschaft habe: „Weder die Verteilung der Arbeit noch die Bündelung von Verantwortlichkeiten oder Reichtum dürfen auf der Grundlage von Geschlecht, privatem Status oder sexueller Orientierung zustande kommen.“ Die rechtliche und faktische Gleichstellung Homosexueller mit Heterosexuellen wurde als eine Ausdrucksform der gewünschten multikulturellen Gesellschaft angesehen, weswegen die Abschaffung des Paragraphen 175 StGB unerlässlich sei.

Ansonsten wurde hinsichtlich des Sexualstrafrechts aber ein anderer Akzent gesetzt. Die Grünen rückten die Paragraphen 177 bis 179 StGB in den Fokus, um Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen oder Frauen und Kinder besser gegen (sexuell) gewalttätige Männer zu schützen. Im Kern ging es also – abgesehen von der Streichung des Paragraphen 175 – nicht um eine Liberalisierung, sondern um eine Verschärfung des Sexualstrafrechts. Zugleich wurde ein öffentlicher Diskurs über „Pornographie und Sexualität“ verlangt. In diesem Zusammenhang kam auch die Existenz „von sexuellen Phantasien, Bedürfnissen und Praktiken, die Unterdrückung, Erniedrigung und Gewalt beinhalten“, zur Sprache. Diese wurde aber zurückgewiesen, sofern es sich um einen Ausdruck „sexuell geformter Männergewalt“ handele. Bemerkenswert war zudem, dass das Verbot von pornographischem Material, welches Gewalttätigkeiten oder den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigt (Paragraph 183 III StGB), ausdrücklich gutgeheißen und allein die schwache Durchsetzung in Bezug auf die Darstellung von Folter weiblicher Personen bemängelt wurde.

Zehn Jahre nach dem ersten Grundsatzprogramm hatte sich die Sichtweise der feministischen Strömungen bei den Grünen in Diktion und Wahl der Schwerpunkte so niedergeschlagen, dass keinerlei Unterstützung von Pädophilie mehr zum Ausdruck gebracht werden konnte. Schon im Frühjahr 1989 hatte sich der Bundeshauptausschuss der Grünen offiziell auch von solchen Positionen distanziert. Diese Linie findet sich seither – wenn auch nicht ganz so scharf feministisch geprägt – in allen Wahlprogrammen von Bündnis 90/Die Grünen wieder.

1998 bekannten sich die Grünen dazu, ein Umfeld schaffen zu wollen, in dem Kinder „keine Angst vor sexualisierter Gewalt und Missbrauch durch Vertrauenspersonen haben müssen“. Durch die Forderung, bei „rückfallgefährdeten schweren Gewalt- und SexualverbrecherInnen“ auch künftig auf die Sicherungsverwahrung zurückzugreifen, stellte sich die Partei sogar diametral gegen eine Forderung aus dem Wahlprogramm von 1980, das solche Sonderformen des Strafrechts ausdrücklich abgelehnt hatte. Vielmehr erkannten die Grünen das zwischenzeitlich erheblich veränderte Sexualstrafrecht in Bezug auf die dort getroffenen Altersgrenzen vollständig an. Mit der Wendung aus dem 2002 verabschiedeten Grundsatzprogramm, wonach „sexualisierte Gewalt . . . eine der offensivsten Verletzungen der Menschenwürde“ darstelle, haben Bündnis 90/Die Grünen schließlich mit ihrer Vergangenheit unwiderruflich gebrochen.